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Falke, Otto von; Lessing, Julius
Kunstgeschichte der Seidenweberei: eine Auswahl der vorzüglichsten Kunstschätze der Malerei, Sculptur und Architektur der norddeutschen Metropole, dargestellt in einer Reihe der ausgezeichnetsten Stahlstiche mit erläuterndem Texte (Band 2) — Berlin, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.19017#0077
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VII. Die Seidenweberei des späten Mittelalters

von 1300-1500.

A. Die Entstehung des spätmittelalterlichen Seidenstils durch das
Zusammenwirken der Gotik und der chinesischen Kunst.

Während der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts hatte der Siegeszug der Gotik auch
die gewerblichen Künste Schritt für Schritt dem neuen Stil der germanischen Völker des
Abendlandes gewonnen. Italien folgte zögernd dem Vorgang des Nordens; um 1300 jedoch
lenkt auch das italienische Kunsthandwerk ins gotische Fahrwasser ein. Gleichzeitig mit
dieser stärksten Umwälzung in der christlichen Kunst des Mittelalters, und sicherlich nicht
unberührt von den darin wirksamen Kräften, vollzieht sich in der Seidenweberei Italiens
ein Stilwechsel einschneidendster Art. Unmittelbar nach dem Jahre 1300 kommt in den
Seidengeweben von Lucca und Venedig — andere Betriebsorte sprechen in dieser Zeit noch
nicht mit — eine neue Ornamentik zum Vorschein, die einen vollständigen Bruch mit den
Überlieferungen des hohen Mittelalters bedeutet.

Das Knochengerüst des älteren, letzten Endes auf den alexandrinischen Geweben des
6. Jahrhunderts beruhenden Seidenstils, die Flächengliederung durch einrahmende Kreise
oder sonstige festumgrenzte Felder, wird gänzlich beseitigt. In freier Anordnung verteilen
sich nun die Motive ungerahmt über die Fläche, immer in Reihen gegeneinander verschoben,
damit nie gleiche Darstellungen grade übereinander zu stehen kommen. Noch bleiben
die Tierbilder das vorherrschende Element; aber ihr Wesen hat sich von Grund auf geändert.
Sie werden naturähnlich gezeichnet und an Stelle des tatlosen Gegenüberstehens und der
flächenhaften Heraldik tritt das bewegteste Leben. Zahmes Getier und reißendes Wild in
Kampf und Verfolgung, Vögel und Vierfüßler, Fische und Fabelwesen, alles rennt, fliegt
und stürmt gegeneinander, angreifend, flüchtend oder sich bedrohend (vgl. T. 168, 170, 171a,
172, 173, 197). Dem neuen Zug zur Bewegtheit und Ungebundenheit wird die Symmetrie
bald unbedenklich geopfert; es gibt viele Seidenmuster des 14. Jahrhunderts, welche die
Unsymmetrie zum Grundsatz machen und die unvermeidliche Wiederkehr des Rapports
durch geschickte Gruppierung unpaariger Motive zu verbergen suchen. Das Pflanzen?
ornament unterliegt gleichfalls dem Naturalismus. Nicht, daß es nun keine stilisierten
Ranken, Blätter, Palmetten mehr gäbe; aber neben ihnen erscheinen einseitig gekrümmte
Bäume mit windbewegter Krone, mit knorrigen Aststümpfen und blühenden Zweigen, aus
umzäunten Gehegen, Felsen oder einem bachumrauschten Erdstück emporwachsend (vgl.
T. 176, 179, 184, 188).

Hand in Hand mit diesen Wandlungen geht eine gewaltige Bereicherung des Motiven?
schatzes. Mit den Tieren und Pflanzen verbinden sich Bargen und Brunnen, Schiffe und
Zelte, Jägerinnen und Jagdgeräte, Felsen und Gewässer, flatternde Schärpen und Bandrollen
mit pseudoarabischer Schrift, strahlende Mondsicheln und Wolken zu freien, oft ganz land?
schaftlichen Mustern von kaum übersehbarer Mannigfaltigkeit. So unerschöpflich strömt
die Erfindung, so meisterhaft ist fast durchweg die Zeichnung, daß diese Gewebe immer

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