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Falke, Otto von; Lessing, Julius
Kunstgeschichte der Seidenweberei: eine Auswahl der vorzüglichsten Kunstschätze der Malerei, Sculptur und Architektur der norddeutschen Metropole, dargestellt in einer Reihe der ausgezeichnetsten Stahlstiche mit erläuterndem Texte (Band 2) — Berlin, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.19017#0081
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maierei1) eingravierte Darstellung eines Adlers, der einen Hasen greift, einem venezianer
Brokatfragment des 15. Jahrhunderts gegenüber (Abb. 319 und 320). Trotz der flächen*
hafteren Behandlung des Stoffmusters springt die Wesensgleichheit sofort ins Auge; das
stilbildende Element ist hier wie dort die italienische Gotik.

Nur solange die ganz unmögliche Datierung galt, welche die Stoffe des 14. und
15. Jahrhunderts in romanische Zeit zurückversetzte, konnte der ursächliche Zusammen*
hang zwischen dem Sieg der Gotik und dem fast gleichzeitigen Auftreten des freien Seiden*
stils verkannt werden.

Mit der Feststellung der italienisch*gotischen Entstehung des Trecentoseidenstils sind
jedoch seine Neuerungen noch nicht vollständig erklärt. Für den maßvollen Naturalismus der
Tier* und Pflanzenzeichnung und für die Einführung neuer abendländischer Motive braucht
man allerdings keinen anderen Urheber als die Gotik zu suchen. Aber die in vielen italie*
nischen Mustern des 14. Jahrhunderts so stark betonte Unsymmetrie, die wilde Bewegtheit
und das scheinbar ungeordnete Getümmel der Tiere und Fabelwesen, das lag offenbar nicht
auf dem Wege einer normalen und von fremden Einflüssen ungestörten Gotisierung der
romanischen Gewebemuster. Auf diesem Wege war Lucca zu den Weinrankenmustern mit
symmetrischen Tierpaaren gekommen, nicht weiter. Die Unsymmetrie muß von außen her
in den Seidenstil Italiens hineingetragen worden sein. Nicht aus dem Gebiet der islamischen
Kunst, denn diese hing damals selbst noch am festesten am altüberlieferten Gleichmaß des
Flächenornaments. Die Quelle liegt weiter im Osten. China ist zweifellos das Ursprungsland
der heftig bewegten und unpaarig geordneten Tiermuster. In Hunderten Spätmittelalter*
licher Gewebe Italiens liegen die Spuren chinesischen Einflusses, Variationen der Khilins,
Fonghoang und Lotusranken, handgreiflich vor Augen. Die chinesische Kunst, durch ihre
Seidenstoffe nach Europa übertragen, hat die Gotik bei der Neubildung des freien Seiden*
stils befruchtet. Neben diesen beiden in mancher Hinsicht verwandten oder gleichstreben*
den Kräften tritt die muslimische Seidenkunst in den Hintergrund. Sie spielt in dieser Zeit
wesentlich eine Vermittlerrolle, insofern sie selbst chinesische Elemente aufnimmt und nach
Italien und Spanien weitergibt. Ob jeweils chinesische Originale oder ihre muslimischen,
insbesondere persischen Abkömmlinge die einflußreicheren Zubringer gewesen sind, ist
nicht immer zu entscheiden. Die Frage ist auch untergeordnet, denn so oder so bleibt China
der eigentliche Geber, und nur die Tatsache, daß der fernste Osten schon während der
Hochblüte der Gotik wie später zur Zeit der Delfter Fayencen und des Porzellans maß*
gebend in die Stilentwicklung des europäischen Ornaments eingegriffen hat, ist von kunst*
geschichtlicher Bedeutung.

Um Art und Ausmaß des chinesischen Einflusses festzustellen und den durch die
Mittlerrolle der islamischen Kunst etwas verdunkelten Vorgang der Übertragung aufzu*
hellen, ist es am besten, zuerst eine Übersicht der chinesischen Seidenstoffe des 14. Jahr*
hunderts zu geben, dann aus dem italienischen Bestand Beispiele ihrer Einwirkung auszu*
wählen.

B. Chinesische Seidenstoffe des 14. Jahrhunderts.

Es erscheint zunächst seltsam, daß die uralte Seidenweberei Ostasiens, nachdem sie
fast ein Jahrtausend neben der jüngeren des Mittelmeergebiets einhergegangen, die letztere
erst seit 1300, im Orient vielleicht ein halbes Jahrhundert früher, in ihren Bann gezogen
hat. Die Tatsache selbst ist nicht anzufechten; denn von den Seidenstoffen aus Antinoe
und Alexandria an bis zu den romanischen Geweben Italiens sind im Seidenstil der Spät*
antike und des hohen Mittelalters keinerlei greifbare Spuren chinesischer Formen zu ent*

') Katalog Sammlung Lanna I, nr. 65.

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