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Falke, Otto von; Lessing, Julius
Kunstgeschichte der Seidenweberei: eine Auswahl der vorzüglichsten Kunstschätze der Malerei, Sculptur und Architektur der norddeutschen Metropole, dargestellt in einer Reihe der ausgezeichnetsten Stahlstiche mit erläuterndem Texte (Band 2) — Berlin, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.19017#0203
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VIII. Die Hauptströmungen in der Seidenweberei der

Neuzeit von 1500 bis 1800.

Stellt man die Erzeugnisse der europäischen Seidenweberei von der Renaissance an
den Schöpfungen des Mittelalters gegenüber, so fällt der Vergleich — kunstgeschichtlich be?
trachtet — im großen und ganzen nicht zugunsten der Neuzeit aus. Das heroische Zeitalter
der stärksten künstlerischen Anstrengungen geht mit der Gotik zu Ende. Die späteren Er?
folge liegen mehr auf dem Gebiet der gewerblichen Ausdehnung, wenigstens solange, bis
Lyon die Führung gewinnt und durch die eifrige Pflege des Naturalismus, durch die Ver?
feinerung der Farbigkeit und der stofflich technischen Wirkungen der Musterzeichnerei
wieder frisches Leben einflößt.

Die auf Formenklarheit gerichtete und entschieden plastisch empfindende Renaissance
war für die Ausbildung des reinen Flächenornaments und der Rapportmusterung ohne Ende
wenig veranlagt. Während des Mittelalters hatte die italienische Weberei, wie wir sahen,
vom Osten die Befruchtung empfangen, welche die flachmusterarme Kunst des Abend*
landes ihr versagte. Diese alten weltumspannenden Beziehungen wurden nun gelöst; die
Renaissance hat vollendet, was die Spätgotik begonnen, die Abkehr von den Seidenmustern
des Orients, deren Italien nicht mehr zu bedürfen glaubte. Wirtschaftliche Rücksichten
zum Schutz des heimischen Gewerbes haben dabei mitgesprochen; im Jahre 1490 verbot
der Senat von Venedig die Einfuhr orientalischer Seidengewebe mit der Begründung, daß
jetzt von derartigen Stoffen eine genügende Anzahl, welche an Schönheit die des Orients
übertreffen, in Venedig selbst hergestellt würde.1) Das Selbstbewußtsein war nicht unbe?
gründet; im 16. Jahrhundert war der Seidenstil des vorderen Orients viel abhängiger von
Italien, als umgekehrt. So stark die venezianer Stoffe aus der Übergangszeit von der Gotik
zur Renaissance die osmanischen Muster beeinflußt haben, so gering war damals die Gegen?
gäbe des Ostens. Die bemerkenswerteste Neubildung des Ornaments im Türkenreich, die
bekannten osmanischen Blumen, Nelken, Tulpen, Hyazinthen, finden sich am ehesten noch
in spanischen Renaissancestoffen verwertet (Abb. 556), in Italien sehr wenig, in Frank?
reich gar nicht.

Die Musterzeichenkunst Italiens steht nun ganz auf eigenen Füßen. Bringt schon die
Ablehnung fremder Motive eine gewisse Einförmigkeit mit sich, so wird der Eindruck des
Ermattens der Erfindungskraft während des 16. und 17. Jahrhunderts noch verstärkt durch
das Ausscheiden des animalischen Elements. Die Tierbilder, die von der Antike bis in die
Spätgotik hinein den Kern der Seidenmuster bildeten, werden von der Renaissance, trotz
ihrer sonstigen Vorliebe für figürliche Motive, bis auf geringe Überbleibsel, meistens von
heraldischer Bedeutung, beseitigt. Im Sinne der ästhetischen Kultur war das ein Fortschritt;
aber für das nunmehr lediglich auf die Variation von Pflanzenformen angewiesene Flach?
ornament bedeutete der Verlust der belebenden Tierbilder immerhin eine merkliche Ver?
armung.

*) Broglio d'Ajano, S. 58.

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