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146 Oberon vo

vie Antwort gibt: „so geht es und so war es seit Jahrtausen-
ven und Jahrtausende wird es so sein und gehen. Täglich
frische Gräber und neue Wiegen; unentbehrlich, unersetzlich ist
Niemand; ihr Menschen erleidet täglich neue Verluste, die
Mensckbcit keinen!" — Gar zu gern lese ich die Inschriften
auf den Grabsteinen, weniger um zu sehen ob hier Meister
Müller oder Frau Wagner ruht, sondern mehr weil sie mir
ein Seelenspiegel derer sind, welche sie errichteten. Neben
vielem wahrhaftem, tiefinnigem Schmerze viel Schönrednerei
und eitle Prunksucht und neben der hausbackensten Trivialität
fand ich oft soviel Originelles, sowohl in Ausdruck als in
Weltanschauung, daß ich aus solche Grabschriften einen viel
höheren Werth lege als die Menschenkinder gewöhnlich thun
unk mir eine Sammlung von dergleichen angelegt habe, welche
meinem Humor eine reiche Ausbcuie gewährt. Diese Samm-
lung zu vermehren versäume ich nie eine Gelegenheit, wenn
sic sich mir darbietet und auch hier ging ich meiner Liebhaberei
nach. Bald diesen bald jenen Stein betrachtete ich aufmerksam
ohne einen Fund zu machen und schon wollte ich am Erfolg
gänzlich verzweifeln, als ich endlich, in einem ganz entlegenen
Winkel, auf einen Lcichenstcin stieß, der durch Wind und Wet-
ter, vielleicht auch durch den Muthwillen der Menschen, sehr
gelitten hatte, denn einzelne Worte seiner Inschrift waren
bereits zerstört. Das was von derselben aber übrig ge-
blieben, und es war der größte Thcil, war völlig
hinreichend um meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch zu
nehmen und meinen Geist mit einer sehr schwierigen Räthsel-
aufgabe zu beschäftigen. Die Inschrift lautete: „Hier ruht
. . C. M. Oberon von Wieland . . und . . Marie
Auguste fraß Seine Mutter am 11. Oktober 1796."

Hm! sagte ich kopfschüttelnd zu mir, ein merkwürdiges
Räthiel! Wieland's Oberon, der unchristliche Elfenkönig, der ,
durch Generationen noch in unserer Literatur fortleben wird, j
soll lovt, soll mausetodt sein und begraben liegen, hier auf
einem christlichen Kirchhofe im Fürstenthum Schwarzburg! Von !
einem heißhungrigen Weibe, denn das muß die Kanibalin ge-
wesen sein, die Marie Auguste, wurde seine unglückliche Mutter
am 1l. Oktober 1796 gefressen und nirgends findet man über
solä>' sonderbaren Fall von Menschenfresserei, mitten in Deutsch-
land und im 18. Jahrhunderte, etwas ausgezeichnet, als auf
diesem Grabsteine. Und wie, überlegte ich bei mir, kann sie
begraben liegen mit ihrem Sohne in einem gemeinschaftlichen
Grade, wenn sie gefressen wurde, wie dieß der Leichenstein klar
und deutlich besagt! Vergebens suchte ich nach dem Faden der
Ariadne in diesem Labyrinthe von Widersprüchen und meine
Versuche, die fehlenden Buchstaben zu ergänzen, verwirrten mich
nur noch mehr, so daß ich mich genöthigt sah, sie aufzugeben.

In die Dorfschenke zurückgekehrt, war es mein Erstes bei !
dem Wirthe Erkundigungen über das Räthsel und veffen Lösung j
einzuziehen, ich wurde jedoch zwar freundlich, aber kopfschüttelnd !
mit meiner Frage von dem Manne abgewiesen, da ihm das
Vorhandensein des Leichensteines gar nicht bekannt war. Der
Schneider aber, meinte er, der meine Blouse in Reparatur 1
habe, werde mir sicher die gewünschte Auskunft geben können, !

n Wieland.

i denn erstens wohne er unter allen Einwohnern am längsten
hier im Dorfe und zweitens bekümmere er sich gern um aller-
hand Geschichten, die ihn nichts angchen, so daß es mit Kräu-
tern zugehen müsse, wenn er mir nicht Alles von A bis Z :
erzählen könne, was den merkwürdigen Grabstein betreffe.

Sofort begab ich mich zu dem Schneider und war glück-
lich genug, die gewünschte Auskunft über Oberon's Grab zu
erhalten, die ich, sowie sie sich meinem Gedächtnisse einprägte,
wiederzugeben versuche.

„Ja, wenn der Oberon noch lebte", begann der Schnei-
der, „so wäre ich jetzt ein gemachter Mann und hätte nicht
nöthig noch in meinen alten Tagen Nadel, Scheere und Bü-
geleisen zu führen, denn der Oberon war Ihnen ein kreuz-
braver Kerl und würde schon für seinen alten Oheim gesorgt
haben."

„Was!" rief ich erstaunt, „lieber Meister, Sie wären der
Onkel von Wieland's Oberon?"

„Gewesen, und zwar der leibhaftige Onkel, wie ich hier
vor Ihnen stehe. Seit er tobt ist, hat sich's natürlich ausge-
onkelt; übrigens Wielands Oberon wie sie sagen, hieß
er nur im Schwarzburgischcn, in Weimar aber und der übri-
gen Welt hieß er nur Oberon von Wieland, denn von Weimar
war sein Adelsdiplom."

Ich kann offen gestehen, daß es mir etwas unheimlich
zu Muthe wurde, denn ich wußte nicht recht ob der Schneider
verrückt wäre oder ob ich anfinge dem Wahnsinn zu verfallen.
Mein Gott, dachte ich, wenn nun die ganze Welt verrückt ge- ,
worden wäre und dein Ouintchen Verstand wäre Alles, Alles
was an Verstand in der Welt noch vorhanden? Ein Zustand,
der gräßlicher sein müßte als aller Wahnsinn! — Zu den
vielen Widersprüchen und Ungereimtheiten, in die mich Wie-
lands Oberon heute gestürzt hat, noch eine neue: Oberon von
Wieland, ein großherzoglich Weimar'scher Edelmann! . . .
Doch, lasse ich den Schneider in seiner Erzählung fortfahren
oder vielmehr beginnen.

Es war so um bas achtzigste Jahr herum (nämlich um
das Jahr 17801 da war Ihnen hier zu Lande und auch an-
derwärts eine närrische Mode eingerissen, das war das Verse-
machen und bas Verseschreiben. Von Weimar war das Uebel
zunächst ausgegangen und über die Grenze auch zu uns herüber-
gekommen , in das Schwarzburgische; furchtbar ging es im
Lande herum und befiel manche Leute recht heftig. Die Großen
und Vornehmen hatten den Anfang gemacht und die kleinen
und geringen Leute, welche sich stets gern nach dem Winde
richten, der da oben weht, wo die Wetterfahnen stehen, folgten
bald nach. Der ganze Landadel, ja selbst die geistlichen Herrn
waren von der Sucht ergriffen und schämten sich nicht, dem
lieben Herrgott die Tage mit Versemachen abzustehlen. Der
selige gnädige Herr drüben auf dem Edelhofe, hat dazumal
manches schöne Rieß Papier mit seinen Versen verdorben und
er war noch lange keiner von den Schlimmsten. Ich sage
Ihnen, es gab damals welche, denen war noch lange nicht
genug Zeit und Gelb weggeworfen, wenn sie ein Rieß gutes,
feines Schreibpapier vollgeschmiert hatten, nein, sie ließen das
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