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Korybanten, wie wir sie auch in Begleitung der eng verwandten Großen Mutter antreffen. Bereits
der Name zeigt, daß zu irgend einem Zeitpunkt14 diese Korybanten durch die aus dem Bereich
des kretischen Zeus stammenden Kureten substituiert worden sind15. Erscheinen diese auf Kreta
als hilfreich-dämonische Wesenheiten16, Schützer der ländlichen Fruchtbarkeit ebenso wie Schwur-
götter, vor allem aber als Helfer Rheas bei der Geburt des Zeuskindes, indem sie Kronos durch
den Lärm ihrer Waffen den Geburtsakt verheimlichen, so sind die ephesischen Kureten Menschen
aus Fleisch und Blut geworden, die als primitiver, männerbündischer Kultverband nicht nur den
Namen dieser kretischen Dämonenwesen, sondern auch das kretische Motiv des Waffentanzes,
nämlich die Erzeugung apotropäischen Lärms zum Schutze einer Göttergeburt, übernommen
haben. Nicht übertragbar waren jedoch die Götterfiguren des kretischen Mythos. Stand in dessen
Mittelpunkt ein Zeus, so konnte es in Ephesos nur Artemis sein, deren Geburt es zu schützen galt.
In dem Moment, als (die gleichfalls kleinasiatische Fruchtbarkeitsgöttin) Leto zur Zeusgemahlin
und Mutter Apollons und der Artemis geworden war17, wurde diese Genealogie auch für die ephe-
sische Göttin in Anspruch genommen und das von der gemeingriechischen Mythologie auf Delos
verlegte Ereignis der Geburt der göttlichen Zwillinge für eine Örtlichkeit im Nahbereich von
Ephesos reklamiert, die offenbar seit jeher engen Bezug zum Kult der Ephesia hatte18. Damit
war die Rolle der kretischen Kureten als Beschützer einer Göttergeburt endgültig den lokal-
spezifischen ephesischen Verhältnissen adaptiert, und gleichzeitig hatte die ephesische Göttin
mit dieser mythologischen Fiktion ihren Anschluß an das hellenische Pantheon gefunden19.
Soweit dies.
14 Diesen genauer festzulegen ist nicht möglich, doch wäre es theoretisch durchaus denkbar, daß die
Übernahme des kretischen Kuretenmythos bereits in der Zeit der kretisch-mykenischen Kolonisation der klein-
asiatischen Westküste erfolgte. Ohne hier auf die noch keineswegs geklärten Verhältnisse eingehen zu können sei
gesagt, daß diesbezüglich der Bericht Diodors (V 60) über die Wanderung von fünf Kureten von Kreta nach
Karien von Bedeutung zu sein scheint. Der historische Kern der Überlieferung könnte in einer Landnahme
(von fünf Stämmen?) kretisch-mykenischer Einwanderer in Karien zu suchen sein, wobei Karien nicht unbe-
dingt mit der späteren Landschaft dieses Namens identisch zu sein braucht, sondern vielmehr das von einer
nichtgriechischen, „karischen“ Bevölkerung bewohnte Westkleinasien schlechthin bedeuten kann, wie ja auch
Ephesos zur Zeit der Ankunft der ionischen Griechen von „Karern und Lelegern“ bewohnt war, vgl. Strabon
Geogr. XIV 1 641 C. Zum Unterschied von anderen Orten an der kleinasiatischen Westküste, vor allem Milet, ist
der mykenische Hintergrund von Ephesos bisher erst durch einen Fund auf dem Ayasolukberge (vgl. Μ. Baran -
H. Gültekin, Türk Arkeoloji Dergisi, 1964, S. 125ff.) bestätigt worden.
15 Ephesos ist nicht der einzige Ort, an dem der Kuretenmythos rezipiert wurde oder wo zumindest Kureten
bezeugt sind, vgl. die Liste dieser Orte bei F. Schwerin (a. Anm. 8 a. O.). Nirgendwo aber haben sich Menschen
als Kureten empfunden außer in Ephesos (vgl. Poerner S. 247: „Curetes nominabantur genii, ac non ministri
mortales nisi Ephesi“), und nirgendwo anders haben die Kureten eine so große und lange Bolle gespielt.
16 Sie gehören in dieselbe Gruppe wie die Dioskuren, Kabiren, Anakes Daktylen u. ä.
17 So schon bei Homer, II. 21, 497ff.; 24, 606f.
18 Bekanntlich soll Delos früher Ortygia geheißen haben; die Lage des ephesischen Ortygia ist keines-
wegs geklärt (vgl. dazu O. Benndorf, FiE I S. 76ff., und J. Keil, ÖJh 21—22, 1922—1924, S. 113ff.), ebenso-
wenig wie die des Κηρύκειον όρος, von dem Hesych spricht (Κηρύκειον δρος τής Εφέσου, έφ’ ού μυ-9-εύουσιν τον
Έρμήν κηρϋξαι τάς γόνας τής Άρτέμιδος). Strabon beschreibt Ortygia als einen ausgedehnten Tempelbezirk, in
dem neben älteren Heiligtümern mit ,,αρχαία ξόανα“ jüngere mit ,,Σκόπα έ'ργα“ (u. a. eine Gruppe, Leto und
Ortygia, die beiden Zwillinge haltend, vgl. dazu E. Lippold, RE III A 1 Sp. 571, und ders. im Handbuch der
Archäologie [= Handb. d. Altertumswiss. 3.1], S. 350) standen. Nach Steph. Byz. (s. v. Κορησσός) stand im
ephesischen Stadtteil Koressos ein Altar der Leto; vgl. auch FiE IV/1, S. 86, Nr. 7, wo inschriftlich eine ιέρεια
Λητούς genannt ist; vgl. auch S. 132 zu 62p. Zu dem heiligen Ölbaum, der der (späteren) mythologischen Szene
entsprechend nach Strabon und Tacitus Leto als Stütze in ihren Geburtswehen gedient haben sollte, vgl. Kalli-
machos, Hymn. Dian. 3, 238f.: (Άμαζονίδες) £v κοτε παρραλίη Έφέσω βρέτας ίδρύσαντο φηγω ύπδ πρέμνω; der
Dichter meinte damit (vgl. 248ff.) damit allerdings nicht Ortygia, sondern die Stätte des Artemisions.
19 Wir möchten meinen, daß die Inanspruchnahme des Leto-Mythos für die Geburt der ephesischen
Artemis eine relativ junge „Konstruktion“ ist, die bereits einen bewußt rationalen geistigen Hintergrund voraus-
setzt. Der Ansatz Nilssons (vgl. a. Anm. 8 a. O. S. 350), der die Entstehung der von Strabon geschilderten
mythologischen Situation in hellenistische Zeit setzen möchte, erscheint viel zu spät, nicht zuletzt angesichts
der ,,αρχαία ξόανα“ in den älteren Heiligtümern (vgl. oben Anm. 18), obwohl dies allein nichts beweist, da nicht
 
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