73
So ausführlich der Bericht Strabons über die Topographie von Ortygia ist, so überraschend
wenig ergibt sich daraus für das eigentliche kultische Geschehen und die Rolle der Kureten. Dies
ist umso verwunderlicher, als der Autor Ephesos und wohl auch Ortygia persönlich bestens
kannte20. Entweder hat ihn dies nicht interessiert, oder aber, was fast wahrscheinlicher ist, er
hatte Hemmungen, die dortigen Mysterien der Öffentlichkeit preiszugeben. So erwähnt er lediglich,
daß die Kureten συμπόσια abhalten und ,,τινας μυστικάς θυσίας“ vollziehen21 und daß schließlich
,,έθει δέ τινι οί νέοι22 φιλοκαλοϋσι μάλιστα περί τάς ένταΰθα εύωχίας λαμπρυνόμενοι“. Schon Picard
hatte aber angenommen, daß es darüberhinaus noch etwas gegeben haben muß, was er treffend
als „drame de la nativite“23 bezeichnet hat, nämlich die Realisierung der von Strabon lediglich
als mythologische Begebenheit berichteten Szene der Niederkunft Letos unter dem hilfreichen
Lärmen der Kureten in Form einer alljährlichen Wiederholung, als das eigentliche Mysterien-
spiel24, das den Höhepunkt der ortygischen Panegyris ausmachte. Wir möchten meinen, daß
dieses heilige Drama neben der großen Artemisprozession rund um den Panayirdag das wichtigste
Ereignis im kultischen Jahresablauf war. Relativ unerheblich ist dabei, ob — jedenfalls in späterer
Zeit — tatsächlich die Bergeshöhen des Solmissos Schauplatz der hauptsächlichen Funktion der
Kureten war, mit ihren Waffen zu klirren und jenen apotropäischen Lärm zu erzeugen, den der
mythologische Zweck, Hera von Leto fernzuhalten, fordert, oder ob sich das Treiben der Kureten,
einmal zu einem sakralen Schauspiel geworden, im dramaturgischen Interesse der Einheit des
Ortes nicht vielmehr rund um den sowohl von Strabon als auch von Tacitus erwähnten Ölbaum
abgespielt hat25. Es hat nicht am Versuch gefehlt, ein buntes und farbenprächtiges Bild der Er-
eignisse in Ortygia zu malen, das sich indessen nicht in diesem Umfang verifizieren läßt26. Sicher
ist lediglich, daß wir es mit einem das ganze Volk von Ephesos vereinenden Frühlingsfest27 zu
tun haben28, ein altes Vegetationsmysterium, in dessen Mittelpunkt ein heiliger Baum stand,
der im Kult der archaischen Ephesia, die ja auch eine Vegetationsgöttin ist, eine große Rolle
gespielt hat.
gesagt ist, was die ξόανα darstellten. Wie immer dem sei, festzustehen scheint, daß auch Ortygia ein seit alters her
heiliger Ort der Artemis war, das Zentrum eines vielleicht noch älteren Baumkultes, der ja auch in den Versen
des Kallimachos durchschimmert.
20 Bekanntlich hat Strabon einige Zeit in Nysa gelebt.
21 Wie es scheint, handelt es sich dabei um die Rauch-, Trank- und Tieropfer, die in den kaiserzeitlichen
Kuretenlisten als eigene Kultfunktionen erscheinen (vgl. S. 7 9 ff.).
22 Die Bestimmtheit, mit der von den νέοι gesprochen wird, zeigt, daß es sich nicht um die ephesische
Jugend im allgemeinen, sondern vielmehr um die vereinsmäßig organisierte Jugendorganisation handelt; vgl.
F. Poland, Geschichte d. griech. Vereinswesens, S. 93ff., und D. Magie, Roman Rule in Asia Minor, (1950) II,
S. 854f., Anm. 37.
23 Vgl. S. 278 und S. 296.
24 Das Ausweichen in eine unbestimmte mythologische Vergangenheit gab Strabon die Möglichkeit,
zu erzählen, was geschah, ohne deutlich werden zu müssen; der Eingeweihte wußte ohnehin, was gemeint war.
25 Dies schließt nicht aus, daß die Kureten nicht ursprünglich nach Art der Bakchen die Berge durch-
streift hätten. In späterer Zeit war doch wohl eher der Ort der Niederkunft Letos die Bühne der Handlung,
auf der auch die μυστικαί -9-υσίαι und die συμπόσια stattfanden. Was den Waffenlärm der Kureten betrifft, so
berichtet Strabon ja nur die mythologische Situation, wenn er vom Berge Solmissos spricht, der sich oberhalb
von Ortygia erhebt.
26 Vgl. Picard S. 286 und S. 296ff.; der Analogieschluß vom Treiben der Kybelepriester auf das der
Kureten geht zu weit.
27 Vgl. Picard S. 279: ,,. . . que la fete de la naissance de l’Lphesia . . . etait essentiellement une fete du
printemps“. Vgl. auch Keil, ÖJh 21—22, 1922—1924, S. 119.
28 Das Datum, der 6. Θαργηλιών (= Mai), ist durch die Vibius Salutarius-Inschrift gesichert. Vgl. In-
schriften von Ephesos la Z. 224f.
So ausführlich der Bericht Strabons über die Topographie von Ortygia ist, so überraschend
wenig ergibt sich daraus für das eigentliche kultische Geschehen und die Rolle der Kureten. Dies
ist umso verwunderlicher, als der Autor Ephesos und wohl auch Ortygia persönlich bestens
kannte20. Entweder hat ihn dies nicht interessiert, oder aber, was fast wahrscheinlicher ist, er
hatte Hemmungen, die dortigen Mysterien der Öffentlichkeit preiszugeben. So erwähnt er lediglich,
daß die Kureten συμπόσια abhalten und ,,τινας μυστικάς θυσίας“ vollziehen21 und daß schließlich
,,έθει δέ τινι οί νέοι22 φιλοκαλοϋσι μάλιστα περί τάς ένταΰθα εύωχίας λαμπρυνόμενοι“. Schon Picard
hatte aber angenommen, daß es darüberhinaus noch etwas gegeben haben muß, was er treffend
als „drame de la nativite“23 bezeichnet hat, nämlich die Realisierung der von Strabon lediglich
als mythologische Begebenheit berichteten Szene der Niederkunft Letos unter dem hilfreichen
Lärmen der Kureten in Form einer alljährlichen Wiederholung, als das eigentliche Mysterien-
spiel24, das den Höhepunkt der ortygischen Panegyris ausmachte. Wir möchten meinen, daß
dieses heilige Drama neben der großen Artemisprozession rund um den Panayirdag das wichtigste
Ereignis im kultischen Jahresablauf war. Relativ unerheblich ist dabei, ob — jedenfalls in späterer
Zeit — tatsächlich die Bergeshöhen des Solmissos Schauplatz der hauptsächlichen Funktion der
Kureten war, mit ihren Waffen zu klirren und jenen apotropäischen Lärm zu erzeugen, den der
mythologische Zweck, Hera von Leto fernzuhalten, fordert, oder ob sich das Treiben der Kureten,
einmal zu einem sakralen Schauspiel geworden, im dramaturgischen Interesse der Einheit des
Ortes nicht vielmehr rund um den sowohl von Strabon als auch von Tacitus erwähnten Ölbaum
abgespielt hat25. Es hat nicht am Versuch gefehlt, ein buntes und farbenprächtiges Bild der Er-
eignisse in Ortygia zu malen, das sich indessen nicht in diesem Umfang verifizieren läßt26. Sicher
ist lediglich, daß wir es mit einem das ganze Volk von Ephesos vereinenden Frühlingsfest27 zu
tun haben28, ein altes Vegetationsmysterium, in dessen Mittelpunkt ein heiliger Baum stand,
der im Kult der archaischen Ephesia, die ja auch eine Vegetationsgöttin ist, eine große Rolle
gespielt hat.
gesagt ist, was die ξόανα darstellten. Wie immer dem sei, festzustehen scheint, daß auch Ortygia ein seit alters her
heiliger Ort der Artemis war, das Zentrum eines vielleicht noch älteren Baumkultes, der ja auch in den Versen
des Kallimachos durchschimmert.
20 Bekanntlich hat Strabon einige Zeit in Nysa gelebt.
21 Wie es scheint, handelt es sich dabei um die Rauch-, Trank- und Tieropfer, die in den kaiserzeitlichen
Kuretenlisten als eigene Kultfunktionen erscheinen (vgl. S. 7 9 ff.).
22 Die Bestimmtheit, mit der von den νέοι gesprochen wird, zeigt, daß es sich nicht um die ephesische
Jugend im allgemeinen, sondern vielmehr um die vereinsmäßig organisierte Jugendorganisation handelt; vgl.
F. Poland, Geschichte d. griech. Vereinswesens, S. 93ff., und D. Magie, Roman Rule in Asia Minor, (1950) II,
S. 854f., Anm. 37.
23 Vgl. S. 278 und S. 296.
24 Das Ausweichen in eine unbestimmte mythologische Vergangenheit gab Strabon die Möglichkeit,
zu erzählen, was geschah, ohne deutlich werden zu müssen; der Eingeweihte wußte ohnehin, was gemeint war.
25 Dies schließt nicht aus, daß die Kureten nicht ursprünglich nach Art der Bakchen die Berge durch-
streift hätten. In späterer Zeit war doch wohl eher der Ort der Niederkunft Letos die Bühne der Handlung,
auf der auch die μυστικαί -9-υσίαι und die συμπόσια stattfanden. Was den Waffenlärm der Kureten betrifft, so
berichtet Strabon ja nur die mythologische Situation, wenn er vom Berge Solmissos spricht, der sich oberhalb
von Ortygia erhebt.
26 Vgl. Picard S. 286 und S. 296ff.; der Analogieschluß vom Treiben der Kybelepriester auf das der
Kureten geht zu weit.
27 Vgl. Picard S. 279: ,,. . . que la fete de la naissance de l’Lphesia . . . etait essentiellement une fete du
printemps“. Vgl. auch Keil, ÖJh 21—22, 1922—1924, S. 119.
28 Das Datum, der 6. Θαργηλιών (= Mai), ist durch die Vibius Salutarius-Inschrift gesichert. Vgl. In-
schriften von Ephesos la Z. 224f.