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Alles in allem gewähren die kuretischen Jahreslisten einen bisher singulären Einblick in die
Struktur der ephesischen Bevölkerung während der ersten beiden Jahrhunderte der Kaiserzeit,
in denen die Stadt den Höhepunkt ihrer Blüte erreicht hat, und zwar nicht nur „horizontal“,
d. h. bezüglich des numerischen Verhältnisses der Peregrinen zu den römischen Bürgern, sondern
auch „vertikal“ im Sinne der sozialen Hierarchie. Die folgenden Feststellungen dürften im großen
und ganzen für die Bevölkerungsschichtung aller Städte des griechischen Orients in der Kaiserzeit
zutreffen.
In „horizontaler“ Sicht ist eine deutliche Zunahme und ein schließliches Überwiegen der römi-
schen Bürger zu beobachten, was sich sowohl aus der immer liberaler gehandhabten Bürgerrechts-
politik der Kaiser als auch aus dem verständlichen Streben nach einem Rechtsstatus erklärt, der
seinen Träger über alle Beschränkungen erhob, die dem Peregrinen bei aller persönlichen Freiheit im
Sinne des römischen Staatsrechtes auferlegt waren. Neben dem damit verbundenen höheren Sozial-
prestige waren es wohl das Privileg, nach dem römischen Recht behandelt zu werden sowie die Hoff-
nung auf eine Karriere im Reichsdienst, die das römische Bürgerrecht erstrebenswert machten. Was
letztere betrifft, so ist festzustellen, daß von den mehr als 300 in den Kureteninschriften genannten
römischen Bürgern nur zwei mit Sicherheit im Reichsdienst tätig waren: der dreimalige Militär-
tribun Ti. Claudius Magnus (40p) und P. Vedius Papianus Antoninus (54p), der es zumindest bis
zu der zum Senatssitz qualifizierenden Quaestur gebracht hat. Der Grund für diese auch sonst
feststellbare (soweit feststellbar) geringe Beteiligung am Reichsdienst ist nicht darin zu suchen,
daß es für die Angehörigen der in Frage kommenden Familien attraktiver war, zu Hause zu
bleiben, als jahrelang der Heimat fern von einem Ende des Imperiums zum anderen geschickt
zu werden, sondern vielmehr in der „Personalpolitik“ der Kaiser. Erst in der zweiten Hälfte des
2. Jh.s ist der erste Ephesier zum Konsulat gelangt180! Was im Reichsdienst nicht möglich war,
gewährte manchen die eigene Polis mit ihren vielen politischen Betätigungsmöglichkeiten.
In „vertikaler“ Hinsicht liegt zwischen den Sklaven und Freigelassenen in den niedrigen
Kultämtern und den zweifellos zur Spitze der Gesellschaft und Geldaristokratie zählenden Pry-
tanen das ganze reichhaltige Spektrum des bunten Demos dieser Stadt vor uns ausgebreitet,
der sich aus alteingesessenen, äußerlich in steigendem Maße romanisierten Einheimischen, ansässig
gewordenen Italikern, Nachkommen beider Volksgruppen (die sich mit fortschreitender Zeit
naturgemäß immer mehr vermischt haben), Freigelassenen und schließlich Sklaven zusammen-
setzt, die einen integrierenden Teil der Gesamtbevölkerung ausgemacht haben. Dazu kommen,
für uns auf Grund der Namen allein nicht differenzierbar, Zuwanderer aus anderen Poleis Klein-
asiens, Griechenlands und der Inseln und in einer Stadt von der Bedeutung und Internationalität
von Ephesos, die zu den ersten und größten des ganzen Imperiums zählte, Zuwanderer aus anderen
Reichsteilen, vor allem des übrigen römischen Orients.
Analysiert man die Kuretenlisten sowie die Liste B 54 nach dem Rechtsstatus der Kureten,
so bestätigen sich die diesbezüglich bereits gemachten Feststellungen unschwer durch einen Blick
auf die Übersichtstabelle S. 99. Zur Beurteilung des Verhältnisses von römischen Bürgern zu
Peregrinen wurden nur jene Listen in Betracht gezogen, deren Kuretenkataloge komplett sind.
Mißt man dieses Verhältnis an Hand von 17 Listen erstmalig nach B 21, also bis zum Jahre
104 n. Chr., so ergibt sich eine Relation von 49 : 51, also fast 1 : 1, wobei die Peregrinen noch
leicht überwiegen. Für den von den Listen B 22—B 45 umspannten Zeitraum, der in etwa das
ganze 2. Jh. umfaßt181, beträgt dasselbe Verhältnis bereits 60 : 29, also fast 2:1; Liste B 54,

180 Ti. Claudius Severus, vgl. W. Eck, RE Suppl. XIV s. v. Claudius nr. 349a; zur „Personalpolitik“ der
römischen Kaiser vgl. auch Eck, Beförderungskriterien innerhalb der senatorischen Laufbahn, dargestellt an
der Zeit von 69 bis 138 n. Chr., ANRW II 1 (1974) S. 158ff. und besonders die jüngst erschienene Spezialunter-
suchung zu diesem Thema von H. Halfmann, Die Senatoren aus dem östlichen Teil des Imperium Romanum
bis zum Ende des 2. Jh.s n. Chr., Hypomnemata 58, 1979 (bes. S. 71 ff.).
181 Vgl. S. 93f.
 
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