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Marées-Gesellschaft [Hrsg.]
Ganymed: Blätter der Marées-Gesellschaft — 2.1920

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Gesammelte Worte über grosse Meister
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Hagen, Oskar: Vincent van Gogh
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https://doi.org/10.11588/diglit.44996#0139
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VAN GOGH

Die Zeichnung sei für derartiges das einzige taugliche Mittel,
wurde oben gesagt. Den Altdeutschen war das längst bekannt
und sie hatten alle Konsequenzen daraus gezogen. Das Linien-
„ Gewebe“ war für Vincent immer eine Art Idealmittel des Aus-
drucks gewesen. Die Cheviotweber hätten ihn das gelehrt,
pflegte er zu sagen. Hier wurde die Einzellinie gleichsam zum
Faden, die Totalerscheinung zum Teppich. Die Impression auf
der Netzhaut war nicht einfach da als kompakte Farbflächen-
kontinuität, sondern wurde gleichsam vor Augen des Beschauers;
entwob sich. Einschlag und Kette, nach besonderem Gesetz sich
unterschlingend, verknüpfend, tragend, entrollten das formale
Wirkliche in bestimmtem, sprechendem, nicht zu übersehendem
Rhythmus. In höherem Grade, als es schon durch die Umdeu-
tung der illusionistischen Farbe in rhythmische Schwarz-Weiß-
Verhältnisse geschieht, wird das Kunstwerk durch diese Auf-
lösung der Netzhautimpression in ein bewegtes Liniengeflecht
der Naturnähe entrückt. Das Gebilde abzulesen, wird dem Blick
nur möglich durch die organische Verknüpfung, die das Faden-
gewebe vom Fernen zum Nahen, vom Oben zum Unten her-
stellt. In diese Linienbewegung war nun das sinnliche Gesamt-
erlebnis mit eingeschmolzen. In das Lebensganze; in den Ein-
zelfaden sowohl, als auch in das Webemuster gleichsam. Die
Federlinie als solche war die erste und letzte Einheit, aus
der alles gemacht war, das geformte und formende optische
Wirkungsmaterial, der „Generalnenner“ des sinnlichen Integrals.
Was soll man mehr analysieren? Kann mit Worten klar ge-
macht werden, was im gestalteten Bildwerk unverkennbar ist?
Die Sinnlichkeit des Künstlers selbst läßt sich nicht aus ihren
synthetischen Erlebniszuständen zurückzerlegen, es sei denn, daß
man diese oder jene besondere mitschwingende Empfindung nam-
haft machte, die dann aber doch nur Teil eines Ganzen ist und

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