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Marées-Gesellschaft [Hrsg.]
Ganymed: Blätter der Marées-Gesellschaft — 2.1920

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Gesammelte Worte über grosse Meister
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Hagen, Oskar: Vincent van Gogh
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https://doi.org/10.11588/diglit.44996#0140
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GESAMMELTE WORTE ÜBER GROSSE MEISTER

bleibt! Das Erlebnis eines klobigen Bauernleibes läßt Vincents
Hand den Kohlenstift schwerer packen, und die sinnliche Gegen-
wart der mühsam ungelenken Bewegungen bleibt im Strich
wie eine Gebärde des zeichnenden Interpreten bewahrt. Die
klare Bläue eines Fischerdorfes läßt ihn die Feder in geome-
trischen Geraden kristallinische Gebilde aufreißen, einfach und
gleichmäßig nüchtern, wie das Leben, das darin beschlossen ist;
sie läßt ihn die Bistertöne der Schatten besonders warm auf das
Papier streichen, so daß die klirrende Kälte des bläulich ange-
hauchten Papiers die Seeluft wie den Atem dieser Wirklichkeit
miterleben macht. Der üppige Schwall hoher Gräser und Blumen
setzt sich ihm um in bewegte Schwünge und gedrängten Über-
strom wogender Formen. Wohin würde es führen, wollte man
das Einheitswunder eines sich ins Universum bewegter und be-
wegender Kräfte zurück wandelnden Dichters der Sichtbarkeit mit
harten Worten zerrupfen und klassifizieren?
Es mußte zuletzt dahin kommen, daß er, der immer reiner
in der Natur sich selbst fühlte, als letzte Erkenntnis diese ge-
wann: daß es keiner dinglichen Vorbilder bedurfte, um Wahr-
heit zu bilden; daß es vielmehr im weitesten Sinne Wahrheit
wurde, nichts als volle, unbeschränkte Wahrheit, Wahrheit ohne
Nebenzwecke, wenn der Strom des lebendigen Fühlens Ausfluß
fand, ohne Grenzen; wenn die Linie (die er auch aus der Farbe
zu spinnen wußte) nichts anderes zu sein brauchte als einzig
Rhythmus und Melodie, Ausdruck gestaltendes Kräftesymbol der
in Mensch und All gleichermaßen und zugleich schaffenden Wirk-
lichkeit; der Weltseele, wie die moderne Menschheit sie emp-
findet und sieht.
Aus der van Gogh-Mappe.

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