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EINFÜHRUNG
wahrte ihren Charakter als Raumbegrenzung, auch wo sie Trägerin malerischen
Schmuckes wurde, und die Buchseite blieb das bewegliche Blatt auch unter
dem Bilde, das sie ziert. Die Fläche ist das Gesetz der Buchmalerei wie des
Wandbildes. Ihr Ziel ist ornamentaler Schmuck. Ihr Sinn bildhaft deutliche
Erzählung. Nun macht das Gemälde sich frei von seinem Substrat, vernichtet
seine Unterlage. Der Charakter der Buchseite wird durchbrochen. Der
unvergleichliche Flächenschmuck gotischer Handschriftenillustration weicht
einer Miniaturmalerei, die nichts anderes mehr ist als eine Malerei kleiner
Bilder. Die Wand, das Fenster lösen sich in Scheinarchitekturen, die zu dem
ursprünglichen Wesen der Mauer, der Glasfläche sich in gewollten Gegensatz
stellen. Die Hauptform des neuen Bildes wird die gerahmte Tafel, die an
sich jeder selbständigen Bedeutung entbehrt und damit erst dem Gemälde sein
eigenes, unabhängiges Dasein sichert.
Mit dieser Lösung aus der alten materiellen Gebundenheit vollendet sich
die Befreiung der Malerei, die nicht mehr aus fremder Hand ihre Unterlage
empfängt, sondern sie selbst bereitet. Die Tafel existiert nur um der Malerei
willen, die sie trägt. Und die Fläche, die er selbst wählt und schafft, darf
der Künstler verleugnen, um eine andere Realität in der Scheinwelt seines
Bildes an ihre Stelle zu setzen.
Es ist selbstverständlich, daß nicht die neue Bildform der gerahmten Tafel
den Anstoß gab zu der Umorientierung von der Fläche in den Raum, daß viel-
mehr der logische Prozeß allgemeiner Stilwandlung, der diesen Weg führte,
das Tafelbild zu seiner beherrschenden Stellung erhob. Sicher ist es aber, daß
das Ideal räumlich plastischer Gestaltung erst in der neuen Bildform sich aus-
zuwirken vermochte.
Daher erwächst dem Begriff des Tafelbildes prinzipielle Bedeutung, und es
rechtfertigt sich die Grundlegung einer historischen Grenzsetzung, die ihn zum
Ausgangspunkt wählt, um eine Geschichte der deutschen Tafelmalerei als
Sondergebiet zu behandeln und aus dem allgemeinen Zusammenhänge des Ab-
laufs künstlerischer Entwicklung zu lösen.
EINFÜHRUNG
wahrte ihren Charakter als Raumbegrenzung, auch wo sie Trägerin malerischen
Schmuckes wurde, und die Buchseite blieb das bewegliche Blatt auch unter
dem Bilde, das sie ziert. Die Fläche ist das Gesetz der Buchmalerei wie des
Wandbildes. Ihr Ziel ist ornamentaler Schmuck. Ihr Sinn bildhaft deutliche
Erzählung. Nun macht das Gemälde sich frei von seinem Substrat, vernichtet
seine Unterlage. Der Charakter der Buchseite wird durchbrochen. Der
unvergleichliche Flächenschmuck gotischer Handschriftenillustration weicht
einer Miniaturmalerei, die nichts anderes mehr ist als eine Malerei kleiner
Bilder. Die Wand, das Fenster lösen sich in Scheinarchitekturen, die zu dem
ursprünglichen Wesen der Mauer, der Glasfläche sich in gewollten Gegensatz
stellen. Die Hauptform des neuen Bildes wird die gerahmte Tafel, die an
sich jeder selbständigen Bedeutung entbehrt und damit erst dem Gemälde sein
eigenes, unabhängiges Dasein sichert.
Mit dieser Lösung aus der alten materiellen Gebundenheit vollendet sich
die Befreiung der Malerei, die nicht mehr aus fremder Hand ihre Unterlage
empfängt, sondern sie selbst bereitet. Die Tafel existiert nur um der Malerei
willen, die sie trägt. Und die Fläche, die er selbst wählt und schafft, darf
der Künstler verleugnen, um eine andere Realität in der Scheinwelt seines
Bildes an ihre Stelle zu setzen.
Es ist selbstverständlich, daß nicht die neue Bildform der gerahmten Tafel
den Anstoß gab zu der Umorientierung von der Fläche in den Raum, daß viel-
mehr der logische Prozeß allgemeiner Stilwandlung, der diesen Weg führte,
das Tafelbild zu seiner beherrschenden Stellung erhob. Sicher ist es aber, daß
das Ideal räumlich plastischer Gestaltung erst in der neuen Bildform sich aus-
zuwirken vermochte.
Daher erwächst dem Begriff des Tafelbildes prinzipielle Bedeutung, und es
rechtfertigt sich die Grundlegung einer historischen Grenzsetzung, die ihn zum
Ausgangspunkt wählt, um eine Geschichte der deutschen Tafelmalerei als
Sondergebiet zu behandeln und aus dem allgemeinen Zusammenhänge des Ab-
laufs künstlerischer Entwicklung zu lösen.