Tours. Touraine. Grenzgebiete
Wie eine derartige feierliche Reliquienauffindung und Überführung sich im Geiste
des beginnenden 16. Jahrhunderts spiegelt, zeigt typisch die für unser Gebiet weit
wichtigere Geschichte des heiligen Stephanus, ein Geschenk (1502) des Bischofs Jean
Baillet an die Kathedrale Saint-Etienne zu Auxerre (Abb. 318). Es ist meines Wissens
kein Dokument erhalten geblieben, das die Herstellung der außerordentlich interessanten
Folge den Werkstätten der Loire zuschreibt. Trotzdem lassen eine Reihe stilistischer und
technischer Gründe die Provenienz kaum zweifelhaft erscheinen. Gehört die Geschichte
Saturnins mit dem noch zu besprechenden Leben des Petrus in der Saint-Pierre-Kirche
zu Saumur zu der späteren, farblosen, stark italienisierenden Gruppe, so kennzeichnet
der Stephanuszyklus mit den ihm verwandten Behängen die Fortführung der guten
alten, charaktervollen Tradition. Es entsteht die nicht unwesentliche Frage, weshalb
bediente Jean Baillet, der Sproß einer alteingesessenen Pariser Familie, sich für die
Durchführung seines Auftrages nicht eines Ateliers der Hauptstadt? Die einwändfreie
Beantwortung ist um so schwieriger, als authentische Pariser Arbeiten aus dieser Zeit
zu den größten Seltenheiten zählen. Maßgebend für die Zuteilung ist in erster Linie
die Eigenart der Farbengebung: Rot und Rosa feiern geradezu Orgien, es fehlt nicht
das uns wohlbekannte Weißblau. Im Gegensatze hierzu sprechen die Pariser Ver-
träge stets von Gelb, Grün und Braun, Farben, die, abgesehen von dem Verdürengrund,
in der Stephanusgeschichte kaum vorkommen. Maßgebend ist ferner die Behandlung
des Baumschlags und der Flora des Vordergrundes; wir finden die uns sattsam be-
kannten Orangenbäume, die blühenden Feuernelken, die Maßliebchen, das durch ge-
schwungene Linien charakterisierte Gras, den scharfen Übergang von Hell zu Dunkel;
das Einhorn an der Leiche des ersten christlichen Märtyrers verleugnet nicht seine
nahe Verwandtschaft mit dem Sagentiere in der Folge der „Dame mit dem Einhorn".
Abweichend von dem „Feudalleben" im Mus<5e de Cluny und der «Dame mit dem
Einhorn" ist die härtere, straffere Durchbildung sowohl des Blumenflores als auch der
Gewänder und Gesichtszüge. Die Farbenübergänge sind schroff, es fehlt der verbin-
dende weiche Hauch; andererseits läßt sich das Zusammenklingen von Personen
und Staffage feststellen; wir haben nicht den Eindruck wie bei einzelnen Tep-
pichen des „Feudallebens", als wenn willkürlich und mühsam die Gestalten dem
Landschaftsgrund aufgelegt wären. Wir finden Brokatmuster in einer Farbengebung,
wie sie die früher besprochenen Folgen nicht kennen; in schwarzen Umrißlinien er-
scheint auf gelblichem Grunde das Granatapfelmotiv mit seinen ausstrahlenden Ranken;
rosa Brokat deckt das im Tone kaum abstechende Gewand der auf einer Wiese ge-
betteten, von den Tieren des Wraldes behüteten Leiche des Märtyrers (Abb. 318), grell,
fast unvermittelt blitzen die weißen Glanzlichter. Die Folge macht den Eindruck eines
riesigen, eigentümlich flächenhaft kolorierten Holzschnittes. Weder in der Stephanus-
folge noch in dem in der Farbengebung verwandten und doch wieder verschie-
denen „Feudalleben" finden wir auch nur die geringste Anlehnung an den feststehen-
den niederländischen Farbenzirkel. Selbst die Durchbildung des Baumschlages, der
in gewissen Teilen an Tournai anklingt, weicht ab von der altüberkommenen Regel-
mäßigkeit. Grün löst sich nicht in das charakteristische Lichtgelb, sondern in ein
mattes Gelbbraun; das Bot der Nelken geht in ein Grauweiß über usw. Ich habe
vergebens versucht, eine einwandfreie Erklärung für die seltsame Vorliebe für Rot und
Rosa zu finden.
Die St. Stephanusfolge erscheint in dem Inventar der St. Stephanuskirche zu Auxerre
am 28. XII. 1726 noch mit 12 Behängen (47). Unter dem 6. August 1775 und dem
22. September 1777 beschließt das Kapitel die Veräußerung. Trotz der niedrig ange-
setzten Taxe findet sich kein Käufer. Die Kathedrale überweist dem Hospital zu
Auxerre die prächtige Folge; die Behänge weiden jahrelang in feuchten Räumen ge-
lagert, bis sich 1836 die Augustinernonnen, die die Aufsicht über das Hospital führen,
bemüßigt fühlen, verschiedene Teppiche der Reihe ihrem Arzte, Dr. Maurache, als
Ehrengabe zu überweisen; der Rest der Folge (9 Behänge) geht 1880 durch Kauf in
den Besitz des Pariser Musee de Cluny über. Die Stücke messen in der Höhe durch-
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Wie eine derartige feierliche Reliquienauffindung und Überführung sich im Geiste
des beginnenden 16. Jahrhunderts spiegelt, zeigt typisch die für unser Gebiet weit
wichtigere Geschichte des heiligen Stephanus, ein Geschenk (1502) des Bischofs Jean
Baillet an die Kathedrale Saint-Etienne zu Auxerre (Abb. 318). Es ist meines Wissens
kein Dokument erhalten geblieben, das die Herstellung der außerordentlich interessanten
Folge den Werkstätten der Loire zuschreibt. Trotzdem lassen eine Reihe stilistischer und
technischer Gründe die Provenienz kaum zweifelhaft erscheinen. Gehört die Geschichte
Saturnins mit dem noch zu besprechenden Leben des Petrus in der Saint-Pierre-Kirche
zu Saumur zu der späteren, farblosen, stark italienisierenden Gruppe, so kennzeichnet
der Stephanuszyklus mit den ihm verwandten Behängen die Fortführung der guten
alten, charaktervollen Tradition. Es entsteht die nicht unwesentliche Frage, weshalb
bediente Jean Baillet, der Sproß einer alteingesessenen Pariser Familie, sich für die
Durchführung seines Auftrages nicht eines Ateliers der Hauptstadt? Die einwändfreie
Beantwortung ist um so schwieriger, als authentische Pariser Arbeiten aus dieser Zeit
zu den größten Seltenheiten zählen. Maßgebend für die Zuteilung ist in erster Linie
die Eigenart der Farbengebung: Rot und Rosa feiern geradezu Orgien, es fehlt nicht
das uns wohlbekannte Weißblau. Im Gegensatze hierzu sprechen die Pariser Ver-
träge stets von Gelb, Grün und Braun, Farben, die, abgesehen von dem Verdürengrund,
in der Stephanusgeschichte kaum vorkommen. Maßgebend ist ferner die Behandlung
des Baumschlags und der Flora des Vordergrundes; wir finden die uns sattsam be-
kannten Orangenbäume, die blühenden Feuernelken, die Maßliebchen, das durch ge-
schwungene Linien charakterisierte Gras, den scharfen Übergang von Hell zu Dunkel;
das Einhorn an der Leiche des ersten christlichen Märtyrers verleugnet nicht seine
nahe Verwandtschaft mit dem Sagentiere in der Folge der „Dame mit dem Einhorn".
Abweichend von dem „Feudalleben" im Mus<5e de Cluny und der «Dame mit dem
Einhorn" ist die härtere, straffere Durchbildung sowohl des Blumenflores als auch der
Gewänder und Gesichtszüge. Die Farbenübergänge sind schroff, es fehlt der verbin-
dende weiche Hauch; andererseits läßt sich das Zusammenklingen von Personen
und Staffage feststellen; wir haben nicht den Eindruck wie bei einzelnen Tep-
pichen des „Feudallebens", als wenn willkürlich und mühsam die Gestalten dem
Landschaftsgrund aufgelegt wären. Wir finden Brokatmuster in einer Farbengebung,
wie sie die früher besprochenen Folgen nicht kennen; in schwarzen Umrißlinien er-
scheint auf gelblichem Grunde das Granatapfelmotiv mit seinen ausstrahlenden Ranken;
rosa Brokat deckt das im Tone kaum abstechende Gewand der auf einer Wiese ge-
betteten, von den Tieren des Wraldes behüteten Leiche des Märtyrers (Abb. 318), grell,
fast unvermittelt blitzen die weißen Glanzlichter. Die Folge macht den Eindruck eines
riesigen, eigentümlich flächenhaft kolorierten Holzschnittes. Weder in der Stephanus-
folge noch in dem in der Farbengebung verwandten und doch wieder verschie-
denen „Feudalleben" finden wir auch nur die geringste Anlehnung an den feststehen-
den niederländischen Farbenzirkel. Selbst die Durchbildung des Baumschlages, der
in gewissen Teilen an Tournai anklingt, weicht ab von der altüberkommenen Regel-
mäßigkeit. Grün löst sich nicht in das charakteristische Lichtgelb, sondern in ein
mattes Gelbbraun; das Bot der Nelken geht in ein Grauweiß über usw. Ich habe
vergebens versucht, eine einwandfreie Erklärung für die seltsame Vorliebe für Rot und
Rosa zu finden.
Die St. Stephanusfolge erscheint in dem Inventar der St. Stephanuskirche zu Auxerre
am 28. XII. 1726 noch mit 12 Behängen (47). Unter dem 6. August 1775 und dem
22. September 1777 beschließt das Kapitel die Veräußerung. Trotz der niedrig ange-
setzten Taxe findet sich kein Käufer. Die Kathedrale überweist dem Hospital zu
Auxerre die prächtige Folge; die Behänge weiden jahrelang in feuchten Räumen ge-
lagert, bis sich 1836 die Augustinernonnen, die die Aufsicht über das Hospital führen,
bemüßigt fühlen, verschiedene Teppiche der Reihe ihrem Arzte, Dr. Maurache, als
Ehrengabe zu überweisen; der Rest der Folge (9 Behänge) geht 1880 durch Kauf in
den Besitz des Pariser Musee de Cluny über. Die Stücke messen in der Höhe durch-
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