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es sich nun ganz und gar verbunden fühlt. Dennoch werden
wir nie von dem wirklichen Leben großer Männer das erfahren,
was diejenigen allein wissen, die sie täglich sahen nnd im Stande
waren, ihr Wesen zu fühlen. Was wir uns bilden, ist immer
eine Phantasie, bei der wir selbst, ohne es zn wissen, die erste
Rolle spielen. Wir sehen sie wie wir sie sehen möchten. Alle
empfangenen Nachrichten ordnen wir unwillkürlich in diesem
Sinne, heben hervor, was uns beliebt, übergehen, was wir lieber
verschweigen möchten, und die Sehnsucht nach dem Jdeale ist
es, die uns so zu verfahren lehrt. —

Das Buch, dessen Lectüre all diese Gedanken mit neuer
Lebhaftigkeit in mir erwachen ließ, sind Guhlls Künstlerbriefe.
Der Autor hat in zwei Bänden eine lange Reihe von Briefen
mitgetheilt, die von Malern, Bildhauern und theilweise ihren
Freunden und Protectoren geschriebcn sind. Das Werk beginnt
mit den älteren italienischen Meistern und reicht bis in's vorige
Jahrhundert. Ueberall sind die prägnantesten Schriftstücke aus-
gewählt, jedes einzelne ist mit einem Commentar versehen und
überdies werden die verschiedenen Künstler in ihrer ganzen Wirk-
samkeit durch kurze Einleitungen charakterisirt.

Viele sind darunter, welche keinen Anspruch auf Unsterblich-
keit haben, deren Thätigkeit nur eine handwerksmäßige war, ohne
darum tief zu stehen. Viele sind ferner darunter, die große
Künstler waren: Lionardo, Tizian, Correggio, Murillo, Rubens,
ich zähle sie hier nicht weiter auf. Zwei aber verdienen einen
höheren Namen, sie sind große Münner, Raphael und Michel-
angelo. Dieser Unterschied ist tiefer, als man zuerst denken
mvchte. Euripides, Calderon, Racine waren große Dichter.
Sophokles, Aeschylos, Dante, Shakespeare, Goethe waren große
Männer, Alexander, Scipio, Hannibal, Cäsar, Friedrich, Napoleon
waren das, Turenne, Eugen, Blücher, Wellington nur große
Feldherren. Ein großer Mann spricht sich aus als eine all-
gemeine Macht. So bedeutend ist sein Geist, daß der Stoff fast
 
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