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neben einem langen Jahre, das im Sturme beginnt und unter
Stürmen aufhört. Raphael's Werke sind wie goldene Aepfel,
die an einer ewigen Sonne reiften; keine Mühe sieht man ihnen
an, arbeitslos scheint er sie hingeworfen zu haben, und selbst
wo er das Verderben und das Furchtbare darstellt, tragen seine
Bilder eine klare Schönheit in sich, belasten niemals das Gemüth,
das in Bewunderung versunken ist. Michelangelo's Gestalten
aber wissen nichts von jenen lichten Regionen; unter einem
wolkenschweren Himmel scheinen sie zu wandeln, in Höhlen
scheinen sie zu wohnen und ihr Schicksal jede fortzuroilen wie
eine Felsenlast, die alle Muskeln bis auf's höchste anspannt.
Ernste, trübe Gedanken durchziehen ihre Stirn, es isst als ver-
schmähten sie in ihrer Hoheit das lächelnde Dasein, in das
Raphael die seinigen hinaussandte. Bei jedem Schritte scheinen
sie sich zu erinnern, daß die Erde unter ihren Füßen eine eiserne
Kugel sei, an die sie gefesselt sind, und unsichtbar schleppen die
Ketten nach, niit denen sie die Gottheit an ein düsteres Schicksal
schmiedete.

Keines Künstlers Leben ist auch nur von ferne dem des
Raphael an Glück zu vergleichen. Keine Kämpfe gegen Noth
und Feindschaft bedrängten seine Jugend. Als Kind, was wir
so nennen, erregte er die größten Hoffnungen, schrittweise er-
füllte und übertraf er sie, und bald in einem Umfange, den
Niemand ahnen konnte. Wer hatte geglaubt, daß das der Kunst
zu erreichen möglich wäre? Als Francesco Francia zum ersten-
male eines seiner Bilder sah, legte er den Pinsel nieder und
starb vor Gram, daß er nun nichts mehr zu erreichen habe.
Rasch entwuchs der Jüngling seinen Meistern; von Gemälde
zu Gemälde verfolgen wir die größere Entfaltung seines Genius.
Zuerst sind seine Bilder kaum von denen Perugino's zu unter-
scheiden, bald ist es nur noch Michelangelo, dessen Uebermacht
ihn reizte. Sie kannten sich, sie ehrten sich, aber sie liebten sich
nicht. Es war unmöglich; jeder war dem andern zu gewaltig

H. Grimm, Zehn Essays. 2. Ausl 2
 
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