Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
1240 läßt sich die mit Flügeln versehene Marienikone in Lucca zum erstenmal sicher nachweisen, deren
frühestes Beispiel vielleicht die ,,Madonna di sotto gli organi“ im Dom zu Pisa gewesen ist (Abb. 101;
Garr. 644; 1200-1220). Noch vollständig erhalten besitzen wir das nur 42 cm hohe Triptychon der Samm-
lung Stoclet in Brüssel (Garr. 284; 1240-50), dessen Haupttafel die Muttergottes als Glycophilousa
zeigt. Auf den durch waagerechte Linien halbierten Flügelfeldem sind in den oberen Etagen die Kreuzi-
gung Christi und seine Wiederkunft am Tage des Gerichtes dargestellt. Die unteren Abteilungen werden
von stehenden Heiligenfiguren eingenommen, unter denen die des hl. Franz insofern besondere Erwäh-
nung verdient, als seine Gegenwart auf den in Franziskanerkreisen zu suchenden Ursprung des Bildes
hinweist.
Die Verbindung mit Flügeln, die in kontinuierlicher Folge bei den Elfenbeinschnitzwerken angewandt
wurde, ist in der Toskana, wie schon das Auftreten in der ersten Hälfte des 13. Jhs. beweist, keine eigent-
liche Spätform der Ikonenentwicklung. Dem seit den Anfängen der Bilderverehrung praktizierten Brauch,
die verehrte Ikone nur gelegentlich sichtbar werden zu lassen, sucht man an Stelle von Vorhängen oder
der Verschließung in einen Schrein (an dessen Türen die Triptychonflügel erinnern) durch die Schaffung
einer direkt mit der Tafel verbundenen Vorrichtung auf bequemere Weise zu entsprechen. Die nur wenig
später als die ersten einfachen Ikonen auftretenden Tabernakel folgen damit Beispielen, die in der
italienischen Tafelmalerei bereits seit der zweiten Hälfte des 12. Jhs. durch die lazensischen Deesis-
triptychen gegeben sind.
In Pisa werden seit etwa 1200 Marienikonen hergestellt. Wieder offenbart sich beim ältesten Beispiel,
der Tafel der Spitalkirche S. Chiara zu Pisa (Abb. 103; Garr. 110), der römische Einfluß im länglich-
ovalen Gesichtsschnitt und den jetzt nach unten gekurvten sehr breit gestalteten Brauen oberhalb der
großen Augen. Wie in Lucca setzen sich nach 1240 die byzantinischen Stilformen bei den halbfigurigen
Muttergottesbildem durch, deren Gesamtzahl etwa doppelt so groß ist als die der uns aus Lucca bekannten
Stücke. Der Höhepunkt der sich bis zum Ende des Dugento erstreckenden Produktion liegt im dritten
Viertel des 13. Jhs. Neben dem schon am Anfang des Dugento vorhandenen Glykophilousatypus (Garr. 89;
Messina Privatsammlung) begegnet in einem Beispiel die später in Italien sehr beliebte, die intimsten
menschlichen Beziehungen des Christkindes zu seiner Mutter veranschaulichende Bildform der Madonna
lactans (Abb. 104; Garr. 104; Pisa, Museo Civico, 1260-75). Gleichzeitig ist das ebenfalls im Museo Civico
befindliche Exemplar einer Marienikone im Miniaturformat (Garr. 107; 0,28 x 0,19 m).
In Florenz setzen die erhaltenen halbfigurigen Marienikonen, im Gegensatz zu den schon im 12. Jh.
beginnenden croci dipinte, erst nach 1260 ein. Zahlenmäßig entsprechen sie - sich jedoch im Trecento
weiter fortsetzend - den in Pisa produzierten Stücken. Die Glykophilousa ist in drei, die Madonna lactans
in zwei Beispielen vertreten. Neben der in Florenz ziemlich seltenen Glykophilousa wird im dritten Viertel
des Dugento eine neue nach Vermenschlichung strebende Form der Darstellung des Kindes geschaffen,
bei der dieses, in halb liegender Stellung in den Armen der Mutter ruhend, mit der rechten Hand nach
ihrer Wange greift (Garr. 317, Worcester Art Museum; Garr. 632, Castelfiorentino, Collegiata di
S. Lorenzo). Die Madonna mit dem spielenden Kinde, das seine Hände nach einer Blume ausstreckt,
begegnet erst am Ende des 13. Jhs. (Garr. 630 A; Berlin, Ehemals Staatliche Museen).
Viel häufiger als in Lucca und Pisa ist dort die Verbindung mit Flügeln (Abb. 107, 109), die bei mehr als
der Hälfte der halbfigurigen Marienikonen festzustellen ist. Die Seitenteile sind jedoch nur selten erhalten.
Von ihrem ehemaligen Vorhandensein legen jedoch ,,hinge marks“, d. h. aus den Vorderkanten der Tafel
heraustretende, aus drahtartigem Material von dicker Nagelstärke gefertigte Ösen ein zuverlässiges
Zeugnis ab. Bei drei Triptychen besitzen wir noch die Flügel (Garr. 303, 330, 283), auf denen immer die
Kreuzigung erscheint, der entweder die Szene der Geißelung oder einzelne Heiligenfiguren auf der
anderen Seite gegenübergestellt werden. Auf dem linken Flügel der Ikone in der Sammlung J. Reder
zu New York (Abb. 109, Garr. 303) ist oberhalb der Geißelung die Verkündigung Mariae dargestellt.
Auf den privater Devotion dienenden Verwendungszweck weisen die Abmessungen des ohne Basis und
Aufsatz nur 0,33 m hohen Mittelstückes. Für die Beliebtheit solcher Miniaturtriptychen in Bettel-
ordenskreisen zeugt das noch kleinere Exemplar der Yale University (Garr. 330; Höhe 0,27 m), bei dem
die Figürchen der Heiligen Dominikus und Franz der Hodegetria zugeordnet sind. Da der zuerst genannte
Heilige sich rechts von der Muttergottes befindet und auf dem, vom Betrachter aus gesehen, rechten
Seitenflügel ein weiterer Dominikanerheiliger, höchstwahrscheinlich Petrus Mar-tyr, dargestellt ist, steht
es außer Zweifel, daß die Ikone aus dem Orden der Fratri Predicatori herrührt.

82
 
Annotationen