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Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0073

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Hegels Bildungstheorie dargestellt anhand seiner Nürnberger Gymnasialreden 61

Die neuhumanistische Bildungskonzeption, die mit Hilfe kanonisch gewor-
dener antiker Texte die Persönlichkeit formen wollte, bietet hier keinen Ausweg
mehr.7 Faktisch wird sie nicht mehr realisiert und kann m. E. unter modernen
Bedingungen auch nicht mehr realisiert werden. Das ist kein neuer Befund:
Bereits vor mehr als 40 Jahren hat der Gräzist Uvo Hölscher mit Blick auf das
humanistische Gymnasium nüchtern die Grenzen, ja das Scheitern des neuhu-
manistischen Bildungskonzeptes - mit seiner Idee der sich steigernden Einheit
von Leben und Bildung - festgestellt: „Auch ist durch die unfreie Mentalität des
Unterrichts der Erfolg der sogenannten klassischen Bildung bei den Zöglingen
unserer Gymnasien selten eine große Sicherheit in den Maßstäben und im Ver-
halten, öfter ein ängstliches Hängen am Herkömmlichen und eine krittelnde
Hilflosigkeit gegenüber dem Zeitgenössischen. So ist eine Schule in humanis-
tischem Geiste ein Traumbild geworden, und der Anspruch, durch altsprachli-
chen Unterricht humanistische Bildung zu bewirken, eine Donquichotterie."8
Historische Reminiszenzen sowie Klagen über den Verlust klassischer Bil-
dung versprechen hier also keine Lösung. Zumal die humanistische Bildung in
Deutschland ihren „Praxistest" nicht bestanden hat: Beim Bildungsbürgertum
und den Eliten der Weimarer Republik hat sie - ihrem eigenen Anspruch entge-
gen - keine oder doch nur auf einzelne Personen beschränkte Widerstandskraft
gegen die nationalsozialistische Machtübernahme und Verbrechen geweckt.9
Auch aus diesem Grund ist von einer Überdehnung und Überfrachtung des Bil-
dungsbegriffs Abstand zu nehmen, da er die Spezifikation der Bildungsinhalte
und die Hervorbringung einer moralischen Bildung,10 die er beansprucht, aus
sich heraus nicht leisten kann."

Vgl. zum Begriff des Humanismus auch Heyse 1943,243. Der Humanismus - so Heyses Einsicht
- greift zu kurz, weil er von einem verkürzten, isoliert gedachten Begriff des Menschen aus-
geht, der als solcher - so der Humanismus - für alle Epochen produktiv zu machen sei. Diese
Sicht begreift aber nicht das (metaphysische) System, von dem aus der Begriff des Menschen
jeweils gedacht wird. Und gerade hierin unterscheiden sich die Alten von den Modernen, so
dass eine Übertragung des sog. ^Menschenbildes' gerade nicht möglich ist.
Gegen die - bei klassischen Philologen beliebte - Behauptung einer Kontinuität der Men-
schenwürde von der Antike bis heute erhebt zu Recht Einspruch Köhler 2000,307: „Bei dem
.Vater des Humanismus' liest man nicht gern, daß der höchste Begriff nicht der Mensch als
solcher und auch nicht der freie Mensch, sondern der gebildete römische Mann aus höchstem
Stand ist."
Hölscher 1965,57.

Vgl. dazu auch Schlechta 1969b, 93: „Kurz, man war sozialen und politischen Krisenzeiten in
keiner Weise gewachsen."

Luhmann 2002,192: „[...] wie soll dann Moral eine lernbare Bildungskomponente sein? Doch
wohl kaum als Bestand lernbarer Verhaltensregeln, die in der nächsten Situation nicht mehr
passen."

Vgl. dazu Luhmann 2002,191: „Um auf das ganze Erziehungssystem anwendbar zu sein, mußte
der Begriff der Bildung daher von allen Inhalten entleert werden. Er wird seitdem nur noch
floskelhaft und vor allem politisch gebraucht."
 
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