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Kempter, Klaus [Hrsg.]; Boenicke, Rose [Hrsg.]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Hrsg.]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

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https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0173

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„Radikalphilologie" - Die Bedeutung der Altertumswissenschaften 161

sich von der Bildung macht, ein Sprachbild zumal, aber das Bild schützt ihn
vor der Illusion, er könne anders als in Bildern der Sprache im Bilde sein.

Was aber nun ist die Aufgabe der Philologie? Nur Größenwahnsinn oder Nai-
vität könnten zu der Annahme verführen, es sei Aufgabe der Philologie, die
Gedanken der Verfasser, Autoren, Schreiber unserer Texte noch einmal zu den-
ken. Legionen von braven Universitäts- und Schulmännern müssten über dem
Nachvollzug solcher Gedanken, als Nachdenker, vom Genius der „Vordenker"
berührt, von der Muse geküsst worden sein. Der Niedergang der Alten Sprachen
in der öffentlichen Reputation spricht eine andere Sprache.

Der Philologe sieht nur, was der Text mit der konzeptionell aufgeladenen
Rede gemacht hat. Und beschreibt die Operationen, deren Ineinandergreifen
diesen Text zustande gebracht hat. Er sucht ihn an den Wurzeln zu fassen und
kann ein Stück weit verfolgen, wie das Radikalmaterial über den angestamm-
ten Bereich hinausschießt und sich mit anderem Wurzelwerk verbindet. Er
sucht Zugang zum Getriebe des Textes, sucht in sein Gehäuse zu kommen
und womöglich den generischen Code zu erschließen, der die ratio des Textes
bestimmt. Solches Handwerk ist notwendig subversiv, weil es den Schnellden-
kern ins Gehege kommt, die schon wissen, was Sache ist, noch bevor sie gelesen
haben.

Die Bildungsleistung der Philologie ist so elementar, dass sie leicht über-
sehen wird; sie legt die Bildungsleistung der Texte offen, indem sie durch-
sichtig zu machen sucht, was der Text wie woraus gebildet hat und was an-
dere Texte wie mit diesem Text gemacht haben. Im Gehäuse des Textes darf
der Philologe am ehesten hoffen, jenen Punkt der Textverfertigung zu erha-
schen, der am resistentesten gegen zeitliche Unbilden wie Umbildungen durch
Zeit ist. Im Gehäuse des alten Textes sitzt er also zugleich im Räderwerk der
Moderne, deren zeiträumliche Bildeverfahren, soweit wir sehen, über die aus
der Antike vertrauten nie hinausgekommen sind. Radikalphilologie hätte die
Texte durchsichtig zu machen hin auf ihr elementares Ordnungssystem, ihre
temporal-lokale Axiomatik zumal. Diese liefert die Matrix oder Wurzel für ein
Geschehen, das sich dann, um noch einmal auf Caesar zurückzukommen, in
konzeptionellen Begriffen als Konzept der Geschwindigkeit, der Besetzung und
Entleerung von Räumen, der Kontrolle, der Organisation, der Verständigung
oder eben auch des Krieges fassen lässt.

Altertumswissenschaft könnte für die heutige Bildung deshalb von Nutzen
sein, weil sie gerade heute imstande sein sollte, die zeiüose Modernität des Al-
tertums auf einem Niveau zu vermitteln, das den zeitgenössischen Diskurskon-
texten adäquat ist. Wenn sie erkannt hat, dass das nostra res agitur der antiken
Welt keine Sache der sporadischen Vergegenwärtigung, sprich Aktualisierung,
sondern ein constituens unseres Weltverhaltens ist. Der Bildungsprozess der
Antikelektüre bildet in der Lektüre des alten Textes den modernen Menschen
in uns.
 
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