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Kempter, Klaus [Editor]; Boenicke, Rose [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0187

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Bildungskrisen und Selbstorganisation der Kultur 175

(3) An den Universitäten schlug die zunehmende Fachorientierung bei der
Personalrekrutierung durch. Die Kernphase des Berufungswandels als Durch-
setzung eines freien Professorenmarkts in den geistes- und naturwissenschaft-
lichen Fächern fällt in die Jahrzehnte von 1860 bis 1880. In diesem Prozess der
Ablösung des umfassend gebildeten Gelehrten durch den spezialisierten Fach-
wissenschaftler nahmen die traditionellen Fächer eindeutige Vorreiterrollen
ein.29

Für einen Umbruch in dieser Phase lassen sich zahlreiche weitere Argu-
mente nennen. Parallel zum Begriff „populärwissenschaftlich" etablierte sich
seit den 1860er Jahren der Terminus „Fachwissenschaft" in der Umgangsspra-
che. Bereits um 1880 unterschied Ernst Haeckel in einer Auflistung seines
Schrifttums zwischen wissenschaftlichen Publikationen und populärwissen-
schaftlichen Schriften. Popularität wurde nach 1850 generell als Volksmäßigkeit,
Gemeinfasslichkeit oder Gemeinverständlichkeit aufgefasst. 3° Die Lebenser-
fahrungen sensibler Zeitgenossen sprechen ebenfalls dafür, dass die humanis-
tische Allgemeinbildung zwischen 1860 und 1880 hinter die Spezialisierung der
Lebensvollzüge zurücktrat. Zwei zeitgenössische Stimmen sollen hier als Beleg
genügen. Nach Friedrich Meinecke (1862-1954) begannen sich die Lehrerge-
nerationen ab den 1870er Jahren zu scheiden.31 Auch Rudolf Eucken (1846-
1926) charakterisierte in seinen Lebenserinnerungen die 1870er Jahre als eine
Zäsur, in der sich die Lebensverhältnisse beschleunigt veränderten.32

Das Zurücktreten der Allgemeinbildung (ganzheitliche Integration) hinter
die reine Fachbildung (funktionale Differenzierung) lässt sich im kritischen
Zeitraum neben den Lehrpersonen an höheren Schulen und Universitäten
auch bei anderen Akademikergruppen beobachten. In der Ärzteausbildung
beispielsweise wurde das Philosophicum 1861 durch das Physicum ersetzt.33
Damit wurde Abschied genommen vom neuhumanistischen Reformanspruch,
den angehenden Ärzten als Voraussetzung ihrer fachspezifischen Ausbildung
zunächst eine philosophisch fundierte Allgemeinbildung zu vermitteln. Die
Grenzverschiebung von ganzheitlicher normativer Orientierung (Innen) zur
distanzierter erfahrungswissenschaftlicher Perspektive (Außen) wird in die-
sem Zusammenhang deutlich. In der Ausbildung der Ärzte verlagerte sich mit
dem Vordringen der fachlichen Abgrenzung und der naturwissenschaftlichen
Zugriffe auf den Körper unmerklich die Perspektive auf die Außenseite der
Kultur.

Die Rekrutierungsverhältnisse der akademischen Karrieren im Deutschen
Reich integrierten sich seit den 1880er Jahren zu einem einheitlichen Funk-
tions-System. Das lässt sich aus dem einheitlichen Gleichtakt des Pulsierens

Vgl. Baumgarten 1997,93ff.
w Vgl. Daum 1998,33fr".
" Vgl. Meinecke 1941,66.

Vgl. Hübinger et al. 1997,56.

Vgl. Huerkamp 1985.
 
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