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Kempter, Klaus [Editor]; Boenicke, Rose [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0189

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Bildungskrisen und Selbstorganisation der Kultur 177

tionalisierung der modernen Erfahrungswissenschaften auf die praktische All-
tagwelt begreifen. Das im historischen Prozess verankerte Rationalisierungs-
programm, das Lernen der Generationen aus gemeinsamen Erfahrungen, kam
allen Schichten zugute. Mit dem Lebensstandard wuchs das Bedürfnis politi-
scher Beteiligung. Es dauerte mehrere Generationen, bis sich die objektivierte
Selbstbeobachtung des gesellschaftlichen Lebens bis zur kleinsten Deutungs-
einheit, der subjektiven Meinung des einzelnen Mitglieds im gesellschaftli-
chen Lebenszusammenhang, durchgearbeitet hatte. Diese Demokratisierung
der Kulturstatistik brach sich zuerst dort Bahn, wo sich die Vergesellschaftung
traditionell von unten über den Markt aufbaute: in den USA wurde erstmals
1935 die öffentliche Meinung in Gestalt der modernen Demoskopie erforscht.

Massenkultur ist im Sinne einer fortschreitenden Demokratisierung auf-
zufassen und als strukturelles Gegenstück zur überkommenen elitären Hoch-
kultur zu rekonstruieren. Wenn die Wissenschaft auf die Gestaltung der Le-
benswelt vieler Menschen durchschlägt, beginnt der allmähliche Aufbau der
Massenkultur. Im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg hat sie sich in den fort-
geschrittensten Gesellschaften als internationale Erscheinung endgültig eta-
bliert. Die erste moderne Massenkunst war der erzählende Film. In den späten
1960er Jahren erreichte der Aufstieg der Massenkultur mit der sozialen Aner-
kennung massenkultureller Ausdrucksformen sein Ziel. In Gestalt der Beatles
setzte sich die internationale Rockmusik als Kern einer klassenübergreifenden
Jugendkultur durch und revolutionierte den Alltag. Interessanterweise mo-
oilisierte die internationale Rockmusik auch die Jugend in der DDR, in der
die Kultur noch von oben kontrolliert und oktroyiert wurde. Wichtig ist die
Sinsicht, dass die traditionelle Hochkultur durch die Ausweitung der Massen-
kultur nicht einfach verdrängt wurde, sondern ihre Reichweite in den letzten
Jahrzehnten deutlich erweitern konnte. Bildung löst sich immer mehr von Elite
and Besitz und wird zu einem Lebensstil neben anderen. Nach der Kulturre-
volution der 1960er Jahre sind auch die Intellektuellen „auf dem unsicheren
Boden der kulturell pluralen, offenen Massendemokratie angekommen."37

In der Massenkultur erkennen die Menschen, dass sie gemeinsame Bedürf-
nisse haben. Voraussetzung gemeinsamer Erfahrungen war die Anhebung des
Lebensstandards für die normalen Schichten des Volkes durch Rationalisie-
''ungsprozesse. In diesem Kontext war auch die Entstehung der Freizeit im
Kaiserreich wichtig, denn sie brachte auch einen Gewinn an Freiheit. Die
Lohnarbeiter waren in ihrer freien Zeit frei von ständischer Reglementierung
und herrschaftlicher Kontrolle. Über eigenes Geld konnten sie selbstbestimmt
verfügen und massenkulturelle Unterhaltung verwirklichen. Die Träger der
modernen Massenkultur waren vor allem junge, unverheiratete Arbeiter und
Angestellte, Männer wie Frauen.

Vgl- Maase 1997,269.
 
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