Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Kempter, Klaus [Editor]; Boenicke, Rose [Editor]; Universitäts-Gesellschaft <Heidelberg> [Editor]
Heidelberger Jahrbücher: Bildung und Wissensgesellschaft — Berlin, Heidelberg [u.a.], 49.2005 (2006)

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.2246#0286

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
274 Peter Meusburger

der Begriff Region dieselbe Wurzel hat wie die Begriffe rex, regieren, regu-
lieren oder Regel. Zweitens werden zur Beschreibung von Machtbeziehungen,
Entwicklungen und Statusunterschieden häufig räumliche Begriffe wie Zen-
trum, Peripherie, Marginalisierung (margin = Rand), Segregation, oben und
unten (Ober- und Unterschicht), hoch und niedrig (hoch- und niedrigquali-
fiziert), Vorderseite und Rückseite, innen und außen (zum Beispiel Außensei-
ter), Fortschritt oder Rückschritt etc. verwendet. Die Ausübung von Macht,
die eigentlich in der Durchsetzung von Ideen (Zielen) sowie in der Steuerung,
Koordination und Kontrolle von sozialen Systemen im Raum besteht, benötigt
Standorte, Stützpunkte, Verkehrslinien, Territorien, Einfluss- und Absatzgebie-
te, in denen die Anweisungen, Vorschriften, Regeln, Normen und Ideen einer
übergeordneten Instanz durchgesetzt werden können.

Da die der menschlichen Wahrnehmung zugänglichen Informationen im-
mer bruchstückhaft sind, fassen die kognitiven Prozesse die im Raum positio-
nierten Objekte und sensorischen Signale zu Mustern oder Situationen zusam-
men. Welche Muster, Situationen und Strukturen wir dabei erkennen und wel-
che Rückschlüsse wir daraus ziehen, hängt allerdings von unserem Vorwissen,
unseren situativen Erwartungen und den symbolischen Bedeutungen ab, die
wir Positionen oder räumlichen Konfigurationen zuweisen. Aus der Forschung
über optische Täuschungen ist bekannt, dass unser Gehirn unvollständige In-
formationen mit Hilfe von früheren Erfahrungen, Wissensbeständen, Vorurtei-
len oder Erwartungshaltungen ergänzt. Zahlreiche Entscheidungssituationen
verlangen vom Akteur die Fähigkeit, aus Spuren, Teilen oder Bruchstücken ein
„Ganzes" zu rekonstruieren. Die entsprechenden Assoziationen oder Schluss-
folgerungen werden nicht nur aus der Materialität und der symbolischen Be-
deutung der einzelnen Objekte, sondern ganz maßgeblich aus der räumlichen
Positionierung der Entitäten und den Relationen zwischen ihnen gezogen.

So wie ein Geomorphologe aus der Abfolge, Lagerung, Dicke und räumli-
chen Anordnung von verschiedenen Sedimentarten und Resten von organi-
schem Material in einem Aufschluss Rückschlüsse auf klimatische Bedingun-
gen und geomorphologische Prozesse ziehen kann, die vor Zehntausenden
von Jahren erfolgten, kann der Humangeograph durch die Zusammenschau
der Positionen, Beziehungen und Bedeutungen bzw. aus dem Arrangement der
Objekte im Raum ein Gesamtbild über ein soziales Makrophänomen erhal-
ten. Auch der Arzt kann nicht bei der Erfassung einzelner Symptome stehen
bleiben, sondern seine Diagnose stützt sich auf das Krankheitsbild, das sich
aus einer Kombination von Symptomen zusammensetzt.20 Friedrichs, Lepsi-
us und Mayer21 haben zwar die Metapher des Krankheitsbildes auch schon
verwendet, sie haben aber übersehen, dass auch die Medizin der Soziologie in

20 Um aus diesem Krankheitsbild eine Diagnose erstellen zu können, benötigt man allerdings ein
mehrjähriges Medizinstudium, d.h. das Erkennen und Interpretieren eines Musters erfordert
ein entsprechendes Vorwissen.

21 Friedrichs/Lepsius/Mayer 1998,19.
 
Annotationen