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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0114

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102

Der Bildbefund der 1620er und frühen 30er Jahri

am Betrachter vorbei aus dem Bild heraus schauen.
Ein himmelwärts gewandter Blick, wie ihn Lievens’
Aufblickendes Mädchen in Phantasietracht in Buda-
pest (Szepmüveszeti Muzeum) [Kat. 309] zeigt, ist
der Bildnisintention jedoch abträglich und wird in
der gleichzeitigen Porträtmalerei nicht eingesetzt. In
Kombination mit dem geöffneten Mund des Darge-
stellten kommt auch der nach oben gewandte Blick
von Lievens’ Bärtigem alten Mann mit Barett (Nor-
folk/Va., Sammlung Kaufmann) [Kat. 297] nicht dem
an Porträts gestellten Anspruch würdevoller Darstel-
lung nach.8 Ist der Mund eines im Porträt Dargestell-
ten leicht geöffnet, so wird dies durch die Wendung
zum Betrachter stets als Redegestus interpretiert, was
jedoch bei dem Greis von Lievens nicht der Pall ist.
Diese Beobachtungen berühren bereits den Be-
reich der Mimik und damit auch der Affektartikula-
tion. Tronien veranschaulichten eindeutig ein weitaus
größeres Spektrum unterschiedlicher Gemütsre-
gungen oder -zustände als dies im Bildnis denkbar
wäre. Pür Porträts wurde durchgehend ein ernster,
würdiger Gesichtsausdruck konstatiert, der den Fi-
guren ein ruhiges und beherrschtes Aussehen ver-
leiht, ohne dass eine emotionale Regung erkennbar
würde. Gleichzeitig zeichnen sich die Dargestellten
durch die Wendung und den Blick nach außen aus.
Wie erwähnt, wirken Tronien demgegenüber häufig
ausgesprochen introvertiert. Außerdem zeigen einige
Figuren eine starke Affektäußerung. Zu nennen sind
hier vor allem die fröhlich lachenden Tronien von
Frans Hals, darunter der Kinderkopf in Den Haag
(Mauritshuis) [Kat. 203, Taf. VI], der Junge mit Flö-
te in Schwerin (Staatliches Museum) [Kat. 214, Taf.
45] und der Peeckelhaering in Leipzig (Museum der
bildenden Künste) [Kat. 219, Taf. 47], aber auch die
verhaltener lachende >7,igeunerin< in Paris (Louvre)
[Kat. 217, Taf. 46]. Darüber hinaus findet sich auch
in Rembrandts Frühwerk eine lachende Figur, die
den Tronien von Hals an Ausdruckskraft und über-

zeugender Wiedergabe des geschilderten Affektes in
nichts nachsteht: Möglicherweise nahm Rembrandt
in seinem Lachenden Soldaten (Den Haag, Mau-
ritshuis) [Kat. 392, Taf. V] Bezug auf das Werk des
Haarlemers und trat gleichzeitig in Wettstreit zu des-
sen virtuoser Darstellung lachender Figuren.9
Der Bildbefund deutet darauf hin, dass das La-
chen mit geöffnetem Mund für ein Bildnis im Unter-
suchungszeitraum als nicht statthaft angesehen wur-
de. Bestätigt wird dies durch die negative Beurteilung
des Lachens in Etikettebüchern, religiösen oder mo-
ralisierenden Traktaten, physiognomischen Schriften
und der Kunstliteratur.10 Mit dem vorbildlichen Ver-
halten, das in Porträts zur Schau getragen wurde, war
es nicht vereinbar, und selbst auf Kinderbildnissen
kommt heiteres Lachen mit offenem Mund nicht
vor.11 Kopfstücke, Brustbilder oder Halbfiguren, die
eine lachende Figur zeigen, sind somit als Tronien
(oder je nach ihren Attributen als einfigurige Gen-
re- oder Historienbilder), nicht aber als Porträts zu
begreifen. Hieraus folgt, dass es sich auch bei den in
zeitgenössischen Inventaren als dachende Troniem
bezeichneten Figuren nicht um Bildnisse handelt.12
Wie das Lachen widerspricht auch die Darstellung
anderer Gemütszustände, die von einer mittleren
Gefühlslage abweichen und sich deutlich im Gesicht
der Figuren spiegeln, dem in Porträts einzuhaltenden
decorum. Dies gilt beispielsweise für Rembrandts
Selbstdarstellungen in München (Alte Pinakothek)
[Kat. 387, Taf. 81] und Indianapolis (The Indianapo-
lis Museum of Art) [Kat. 390, Taf. IV, 83], in denen
der Dargestellte überrascht, erstaunt oder vielleicht
auch erschrocken aus dem Bild herausschaut.13
Ähnlich wie die Artikulation von Affekten sind
auch bestimmte aktive Beschäftigungen der Figuren
auf Tronien in der Porträtmalerei nicht anzutreffen.
Zu nennen sind hier vor allem Tronien, die einfigu-
rigen Genrebildern ähneln und wie z.B. Hals’ Sin-
gendes Mädchen (Montreal, Privatbesitz) [Kat. 211]

8 Zu der genannten Tronie vgl. Kat. Den Haag / San Francisco
1990/91, Kat. Nr. 39, S. 318-321.
9 Vgl. Schnackenburg 2001/02, S. 105. Bereits van Mander
stuft das Lachen als einen für den Maler besonders schwer
darzustellenden Affekt ein, Mander / Miedema 1973, Bd. 1,
S. 168 (fol. 25r), Str. 36.
10 Vgl. oben, Kap. II.1.7, S. 74f.
11 Vgl. Verberckmoes 1998, S. 49, 51, 67.
12 Vgl. Biesboer 2001, Dok. 80, Nr. 44, S. 263 (Inv. Daniel Clo¬
ribus / Anna Huijsman, Haarlem 10.12.1681): »Een laggende
tronie f. 1:-;-«; GPI 1994-2003, N-2302, Nr. 0030 (Inv.
Cornelis Aertsz. van Beyeren, Amsterdam 5.7.1638): »Een

lachent kint«; GPI 1994-2003, N-2277, Nr. 0016 (Inv. Maria
Fredrix Rochsdochter, Amsterdam 18.3.1652): »Een lachert-
ge«. Vgl. außerdem GPI 1994-2003, N-65, Nr. 0011, N-330,
Nr. 0033, N-457, Nr. 0027, N-1592, Nr. 0012, N-2071, Nr.
0025, N-2083, Nr. 0041, N-3573, Nr. 0013. Auch bei den
nicht explizit als >Tronien< bezeichneten lachenden Figuren
kann es sich um solche gehandelt haben.
13 Frijda 1968, S. 71-91, legt dar, dass es nicht möglich sei, die ei-
nen Gesichtsausdruck auslösende Emotion ohne Kenntnis des
Kontextes, in dem sich die Gemütsregung abspielt, zweifelsfrei
richtig zu deuten.
 
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