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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0118

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106

Der Bildbefund der 1620er und frühen 30er Jahre

3.3 Modell, Werkkontext und Überlieferung
als Mittel der Abgrenzung
Nicht alle Tronien des Untersuchungszeitraumes
sind aufgrund äußerer Merkmale problemlos von
Porträts zu unterscheiden. In einigen Fällen steht
ihr Erscheinungsbild durchaus in Einklang mit den
für Bildnisse üblichen Darstellungskonventionen.
Dies gilt insbesondere für einige Büsten und Halb-
figuren von Lievens und Rembrandt, die sich durch
eine reiche Phantasietracht, aufrechte Haltung, erns-
ten Gesichtsausdruck, in einigen Fällen zum Be-
trachter gewandten Blick, ausreichende Beleuchtung
und sorgfältige Malweise auszeichnen. Als Beispiele
können Lievens’ Orientale in Potsdam (Sanssouci,
Gemäldegalerie) [Kat. 290, Taf. 61] und Rembrandts
Brustbild eines alten Mannes mit Federbarett und
Halsberge1'' in Los Angeles (J. Paul Getty Museum)
[Kat. 389, Taf. 82] dienen. Rein theoretisch bestünde
die Möglichkeit, dass es sich bei diesen und ähnlichen
Werken der Leidener um frühe Formen des Kostüm-
porträts handelt.
Nun wurde bereits dargelcgt, dass beide Maler,
von einer Ausnahme abgesehen [Kat. 291, Taf. IV],
in Leiden keine nachweislichen Porträtaufträge an-
nahmen. Schon die künstlerische Ausrichtung Rem-
brandts und Lievens’ in Leiden spricht also dagegen,
die genannten Werke als Bildnisse aufzufassen. Im
Folgenden werden zusätzliche Kriterien ermittelt,
die dies nicht nur bestätigen, sondern vor allem zur
Klärung der Frage beitragen, auf welche Weise be-
sonders porträthaft aussehende Tronien generell,
also auch im CEuvre anderer Künstler, von Porträts
unterschieden werden können. In Betracht kommen
hierbei im Wesentlichen drei Dinge: das dargestellte
Modell, der Entstehungskontext bzw. die Einbin-
dung eines Gemäldes in einen bestimmten Werkzu-
sammenhang sowie erhaltene Dokumente, aus denen
sich die Funktion eines Bildes ableiten lässt. Abgese-
hen davon ist ein Gemälde stets als Porträt und nicht
als Tronie zu klassifizieren, wenn der Dargestellte

29 Zur Zuschreibung des Bildes an Rembrandt vgl. RRP 1982—
2005, Bd. 1, Kat. Nr. B4, S. 416-423; Liedtke 1995a; A.
Chong in Kat. Boston 2000/01, Kat. Nr. 17, S. 121-123.
30 Allgemein zur Verwendung lebender Modelle im 17. Jahr¬
hundert vgl. u. a. Kat. Amsterdam / Washington 1981/82, S.
19-22; Kat. Amsterdam 1984/85; S. 6f., 18, 28-37; Miedema
1987b, passim; Bruyn 1991/92, S. 80f.; Bok 1992, S. 178-182;
Manuth 2001. Die genannten Publikationen konzentrieren

als bestimmter Auftraggeber identifizierbar bzw. das
Bild durch Wappen oder Inschriften klar als Porträt
gekennzeichnet ist.
Bei der Behandlung der Tronien von Lievens,
Rembrandt und Hals fiel auf, dass die Künstler wie-
derholt auf dieselben Modelle zurückgriffen, die dar-
über hinaus auch in anderen Bildzusammenhängen
vorkommen. Die Verfügbarkeit der entsprechenden
Personen lässt darauf schließen, dass sie entweder für
ihre Dienste bezahlt wurden oder aber dem engeren
Umkreis bzw. Bekannten- oder Familienkreis der
Künstler angehörten und so als kostenlose Modelle
fungieren konnten, ohne dass mit ihrer Wiedergabe
im Gemälde Porträtabsichten verbunden waren.29 30
Wenn der oder die Dargestellte eines porträthaft wir-
kenden Einfigurenbildes auch in Werken auftaucht,
die nicht als Porträts gelten können, also in Genre-
szenen und Historien oder aber auf eindeutig als
Tronien bestimmbaren Bildern, handelt es sich um
ein vom Maler benutztes Modell, nicht aber um ei-
nen Auftraggeber. Das entsprechende Bild kann so-
mit als Tronie klassifiziert werden. Dies trifft auch
auf Lievens’ Orientalen in Potsdam [Kat. 290, Taf.
61] und Rembrandts Brustbild eines alten Mannes
mit Federbarett und Halsberge in Los Angeles [Kat.
389, Taf. 82] zu. Beide zeigen das ehemals als »Rembrandts
Vater< bekannte Modell.31 Zwar wirken dessen Züge
leicht abgewandelt, eine solche Modifikation ist je-
doch insofern nicht ungewöhnlich für Tronien, als
diese nicht dem für Bildnisse gültigen Gebot exakter
Übereinstimmung mit dem Naturvorbild entspre-
chen mussten.
Die Auffassung der frühen Forschung, der Dar-
gestellte sei als Vater Rembrandts zu identifizieren,
wurde schon bald eindeutig widerlegt.32 Möglicher-
weise handelt es sich um ein professionelles Leide-
ner Modell. Die häufige Verwendung des Mannes
in den unterschiedlichsten Bildkontexten spricht
jedenfalls dagegen, dass Rembrandt, Lievens, Dou
und andere Meister, die den Greis malten, ein per-
sönliches Interesse - im Sinne der Verewigung eines

sich vornehmlich auf die Untersuchung des Zeichnens und
Malens nach Nacktmodellen.
31 Zur Verwendung des früher als »Rembrandts Vater< bezeichne-
ten Modells vgl. oben, Kap. II.1.1, S. 42f. m. Anm. 43.
32 Vgl. Bauch 1933, S. 197f.; ders. 1960, S. 171-173; Schwartz
1987, S. 61; Blankert 1997/98a, S. 46; sowie oben, Kap. II.1.1,
S. 43, Anm. 40.
 
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