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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0120

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108

Der Bildbefund der 1620er und frühen 30er Jahre

isoliert bzw. aus den Bildern des Meisters herausko-
piert und in Tronien umfunktioniert.42
Nicht nur die Verwertung einer Figur für oder
ihre Entlehnung aus einem anderen Bildkontext,
sondern auch ihre Einbindung in einen größeren
Werkkomplex kann zur Bestimmung eines Bildes als
Tronie führen. Hierbei ist in erster Lime an die Inte-
gration eines Bildes in eine Serie zu denken, wie sie
vor allem in der Druckgraphik vorkommen. Lievens’
Folgen radierter Tronien sind hierfür ein gutes Bei-
spiel.43 Seine große Tronie-Serie, zu der sieben num-
merierte Blätter gehören [vgl. Kat. 323, 325-327, Taf.
69, Kat. 324],44 beinhaltet zwei Büsten im Profil, die
zeitgenössische Tracht tragen und auch sonst ihrem
Erscheinungsbild nach Porträts sein könnten [Kat.
323, Taf. 69]. Da sich die übrigen Figuren der Serie
jedoch aufgrund formaler Merkmale eindeutig als
Tronien bestimmen lassen und darüber hinaus das
als >Rembrandts Vater< bekannte Modell in der Serie
vorkommt [Kat. 325, 327, Taf. 69], ist ausgeschlos-
sen, dass es sich um eine Porträtserie handelt. Somit
sind auch die porträthaft wirkenden Brustbilder der
Folge als Charakterköpfe bzw. Tronien anzusehen.
Auch die Wiederverwendung einer bereits be-
nutzten Tafel bei der Produktion einer Büste gehört
zu jenen Aspektendes Entstehungszusammenhanges,
die als Indizien für die Zuordnung eines Bildes zum
Bildtyp der Tronie gewertet werden können.45 Die
Übermalung eines älteren Bildes, die sich bei mehre-
ren der frühen Tronien Rembrandts - unter anderem
auch beim Brustbild eines alten Mannes mit Feder-
barett und Halsberge [Kat. 389, Taf. 82] - nachwei-
sen lässt, wäre für eine Auftragsarbeit ausgesprochen

untypisch, da der Auftraggeber die Leinwand oder
Tafel für sein Bildnis in der Regel selbst bezahlte.46
Schließlich lässt unter Umständen auch die Stel-
lung, die ein Bild in einer bestimmten Periode inner-
halb des CEuvres eines Künstlers einnimmt, auf seine
Zugehörigkeit zur Gruppe der Tronien schließen:
Schuf ein Maler in einem bestimmten Zeitraum kei-
ne Porträts, aber eine große Anzahl von Tronien, ist
davon auszugehen, dass es sich auch bei besonders
porträthaft wirkenden Büsten in Phantasietracht, die
in derselben Zeit entstanden und motivisch mit den
sicher bestimmbaren Tronien vergleichbar sind, um
ebensolche handelt. Im Fall von Lievens’ Bärtigem
alten Mann mit Kalotte in Warschau (Muzeum Naro-
dowe) [Kat. 296, Taf. 62] etwa belegt die Einbindung
in die Gruppe der von Lievens in Leiden geschaffenen
Tronien, dass trotz der porträthaften Qualitäten des
Gemäldes auch hier eine Tronie vorliegt.
Da die enge Bindung einer Tronie an eine größere
Komposition oder ihre Integration in einen bestimm-
ten Werkkomplex im weiteren Verlauf der Entwick-
lung nur gelegentlich und nur bei bestimmten Künst-
lern zu beobachten ist, kommt dem Erkennen der
wiederholt durch einen Maler verwandten Modelle
für die Unterscheidung porträthaft aussehender Tro-
nien von Bildnissen hervorgehobene Bedeutung zu.
Es muss nicht eigens betont werden, dass die Beur-
teilung von >Ähnlichkeit< der subjektiven Wahrneh-
mung des jeweiligen Betrachters unterworfen ist.47
Dennoch kann auf diese zum Teil einzige Möglich-
keit der Abgrenzung nicht verzichtet werden.
Die frühen Brustbilder und Halbfiguren von Lie-
vens und Rembrandt, die sich anhand formaler Merk-

42 Als Beispiel für eine solche Teilkopie bzw. Paraphrase nach
einem Original vom Ende der zwanziger Jahre vgl. das Brust-
bild eines alten Mannes (Br. 146) (Holz, 20,4 x 16,7 cm, Leip-
zig, Museum der bildenden Künste, RRP 1982-2005, Bd. 1,
Kat. Nr. C25, bes. S. 593); als Vorbild diente Rembrandts
Heiliger Paulus am Schreibtisch (Br. 602) (Holz, 47,2 x 38,6
cm, um 1629/30, Nürnberg, Germanisches Nationalmuse¬
um, RRP 1982-2005, Kat. Nr. A26. Vgl. jüngst Kat. Kassel
/ Amsterdam 2001/02, Kat. Nr. 32, S. 222-225). Dazu sowie
zu weiteren Beispielen, auch aus den vierziger Jahren, die in
der frühen Forschung häufig für Vorstudien Rembrandts ge-
halten wurden, vgl. Bruyn 1989, S. 24, Anm. 56; Schwartz
1989, S. 93, 95 m. Anm. 12; Bruyn 1991/92, S. 79f., S. 89,
Anm. 72; Franken 1997, S. 69, 73, Anm. 10; ders. 2006, S.
156f. Wetering 2006b, vollzieht jüngst eine Kehrtwende, in-
dem er eine Reihe der in der vorausgehenden Forschung als
Werkstattarbeiten bzw. Schulwerke eingeschätzten Ölstu-
dien wieder Rembrandt zuschreibt und sie zu eigenhändigen

Vorstudien erklärt. So hält er z.B. das in der Forschung zuvor
als Werkstattarbeit beurteilte Brustbild einer weinenden Frau
(The Detroit Institute of Arts, Detroit, vgl. Bruyn 1991/92,
S. 79f.) für ein Original Rembrandts und betrachtet es nicht
als die von einem Schüler angefertigte Teilkopie von^Rem-
brandts Christus und die Ehebrecherin (London, National
Gallery) von 1644, sondern als vorbereitende Studie der Fi-
gur der Ehebrecherin.
43 Vgl. oben, Kap. 1.4, S. 31.
44 Hollstein’s Dutch and Flemish Etchings 1949ff., Bd. 11
(o.J.), Kat. Nr. 34, 35, 39, 40, 36, 41, 33 (in dieser Reihenfol-
ge), S. 32-35, 37-39.
45 Vgl. oben, Kap. II. 1.5, S. 54f.
46 Vgl. Wetering 1982, S. 32; RRP 1982-2005, Bd. 1, Kat. Nr.
A20, S. 222; Kat. London / Den Haag 1999/2000, Kat. Nr.
26, S. 134; Kat. Amsterdam / Berlin 2006, Kat. Nr. 33/34, S.
306.
47 Vgl. Wetering 1999/2000, S. 14-17.
 
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