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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0142

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130

Verbreitung und Formen der Tronie

Auch bei Bildern, auf denen nach Ansicht der For-
schung Rembrandts Sohn Titus zu sehen ist,91 fragt
sich, ob der Maler sie als Phantasiefiguren im Sinne
der Tronie konzipiert hat oder ob er die Werke in der
Absicht schuf, seinen Sohn im Porträt zu verewigen.
Zumindest für Bilder, deren Darstellungsweise den
Porträtkonventionen und den Regel des decorum
deutlich zuwider läuft, muss Letzteres verneint wer-
den. So sind Gemälde wie Rembrandts Lesender >Ti-
tus< in Wien (Kunsthistorisches Museum) [Kat. 452]
oder >Titus< als Mönch in Amsterdam (Rijksmuseum)
[Kat. 454, Taf. 97] als Tronien, nicht aber als Bildnis-
se einzustufen.92 Die Bezeichnung des Wiener Bildes
als >Porträt< in einer jüngst in Wien gezeigten Rem-
brandt-Ausstellung ist irreführend,93 und auch bei
dem Amsterdamer Bild handelt es sich nicht um ein
portrait historie, wie Jan Kelch annimmt.94
Wesentlich schwieriger zu klassifizieren ist dage-
gen ein so porträthaft wirkendes Gemälde wie der
in der Londoner Wallace Collection aufbewahrte
>Titus< mit rotem Barett [Kat. 451, Taf. 96]. Die Fra-
ge, ob das Bild als Tronie verkauft wurde oder als
Porträt von Titus im Familienbesitz blieb, lässt sich
heute nicht mehr beantworten. Fest steht jedoch,
dass aufgrund des Motivs und dessen künstlerisch-
ästhetischer Auffassung immerhin die Möglichkeit
bestand, das Gemälde auf dem freien Markt als Tro-
nie anzubieten.

1.3 Die Übernahme des Bildtyps durch Schüler
und Nachfolger Rembrandts
Für die Verbreitung der von Rembrandt und Lievens
erfundenen Tronietypen war vor allem die Über-
nahme durch Maler, die in direktem Kontakt zu
Rembrandt standen, von zentraler Bedeutung. Dies
betrifft naturgemäß in erster Linie seine Lehrlinge
und Gesellen.95 Obwohl Lievens entscheidend zur
Entstehung des Bildtyps beitrug, spielte er für seine
Ausbreitung in den Nördlichen Niederlanden keine
mit Rembrandt vergleichbare Rolle. Zu begründen
ist dies nicht zuletzt damit, dass Lievens bereits An-
fang der dreißiger Jahre nach England und 1635 nach
Antwerpen ging, ehe er 1644 nach Amsterdam zu-
rückkehrte.96 In Amsterdam malte er keine Tronien
mehr, die Schüler oder Nachfolger hätten anregen
können.97 Aber auch für die Zeit davor sind keine
Schüler Lievens’ nachweisbar, die in Anlehnung an
ihren Meister einen Schwerpunkt ihrer Tätigkeit auf
die Produktion von Tronien legten.
Demgegenüber machen Tronien bei etwa der
Hälfte der schriftlich bezeugten Schüler Rembrandts,
von denen Gemälde erhalten sind, einen wichtigen
Teil ihres Werkes aus.98 Erfolgreiche Meister wie Ge-
rard Dou (1613-1675), Govaert Flinck (1615-1660),
Ferdinand Boi (1616-1680), Samuel van Hoogstraten
(1627-1678), Willem Drost (1633-1658) und Aert de
Gelder (1645-1727) produzierten noch lange, nach-
dem sie ihre Lehre bei Rembrandt abgeschlossen
hatten, Tronien. Und auch weniger begabte Rem-
brandt-Schüler, wie Isaac de Jouderville (um 1612/13—
1645/48) und Christoph Paudiss (um 1625-1666),

91 Die Tatsache, dass Rembrandt das in der Forschung als Ti-
tus bezeichnete Modell vom Kindes- bis ins Jünglingsalter
sehr häufig malte, rechtfertigt die Identifizierung des Darge-
stellten, wenn sie auch nicht urkundlich belegt werden kann.
Für entsprechende Werke vgl. Tümpel 1986, Kat. Nr. A75;
Schwartz 1987, Kat. Nr. 329-333, S. 296-299; Kat. Berlin /
Amsterdam / London 1991/92a, Kat. Nr. 42, S. 254-257. Für
eine Darstellung Titus’ als Kind vgl. Titus am Schreibpult (Br.
120) von 1655 (Rotterdam, Museum Boijmans Van Beunin-
gen, Kat. Berlin / Amsterdam / London 1991/92a, Kat. Nr.
42, S. 254-257). Kritisch zur Identifizierung des Modells als
Titus vgl. Blankert 1997/98a, S. 46.
92 Zur Identifizierung des Dargestellten als Titus vgl. Tümpel
1986, Kat. Nr. 91, S. 400; Schwartz 1987, Kat. Nr. 331, 332,
S. 298; Kat. Berlin / Amsterdam / London 1991/92a, Kat.
Nr. 42, S. 256.
93 Kat. Wien 2004, Kat. Nr. 83, S. 198f.
94 Kelch in Kat. Berlin / Amsterdam / London 1991/92a, S.
256. Zu Rembrandts Darstellungen von Mönchen vgl. jüngst

Kat. Melbourne / Canberra 1997/98, Kat. Nr. 20, S. 154—
157.
95 Zu Rembrandts Einfluss auf seine Schüler und Nachfolger
vgl. u.a. Kat. Chicago / Minneapolis / Detroit 1969/70;
Kat. Montreal / Toronto 1969; Kat. Amsterdam / Gro-
ningen 1983; Sumowski 1983-1994, 6 Bde.; Kat. Amsterdam
1984/85; Kat. Berlin / Amsterdam / London 1991/92a; Kat.
Den Haag 1992; Kat. Stockholm 1992/93; Kat. New York
1995/96a; Kat. New York 1995/96b; Kat. Melbourne / Can-
berra 1997/98.
96 Zur Biographie Lievens’ vgl. Schneider / Ekkart 1973, S.
1-10; Kat. Braunschweig 1979, S. 33-38; Sumowski 1983—
1994, Bd. 3, S. 1764; Gutbrod 1996, S. 41f., 45-49; Kat. Mel-
bourne / Canberra 1997/98, S. 213.
97 Vgl. auch Schneider / Ekkart 1973, S. 64.
98 Zu Rembrandts in Schriftquellen belegten Schülern vgl.
Blankert 1983; Broos 1983, bes. S. 45ff.; Jansen 1983. Vgl.
auch Blankert 1997/98b; Liedtke 2004, S. 68. Zu Willem
Drosts Schülerschaft vgl. Bikker 2005, S. 9-11.
 
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