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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0147

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Die Entwicklung nach 1630

135

kreis bekannte Gesichtstypen reproduzieren oder
typisierte Züge aufweisen.122
Wie wir gesehen haben, richtete sich Flincks
Auseinandersetzung mit dem Bildtyp der Tronie in
den ersten Jahren seiner Tätigkeit als selbständiger
Künstler unmittelbar nach dem Vorbild seines Lehr-
meisters.123 Der Maler lehnt sich so eng an die von
Rembrandt für Tronien geprägten Figurentypen und
damit an von diesem begründete Bildtraditionen an,
dass eine identische Funktion von Flincks Phanta-
siefiguren der mittleren dreißiger Jahre auch dann
vorausgesetzt werden darf, wenn sie, wie die männ-
lichen Brustbilder in Krakau (Wawel) [Kat. 135] und
St. Petersburg (Eremitage) [Kat. 136, Taf. 29], nicht
als bestimmte wiederkehrende Modelle erkannt wer-
den können.
Ab dem Ende der dreißiger Jahre schuf Flinck vor-
nehmlich Tronien, die schon aufgrund ihrer äußeren
Merkmale zweifelsfrei als solche bestimmt werden
können. Zu diesen Gemälden zählen beispielsweise
der Alte Mann mit roter Mütze in Dresden (Gemäl-
degalerie) [Kat. 143, Taf. X, 30] von 1639 und der Jun-
ge Schwarze mit Köcher und Bogen in der Londoner
Wallace Collection [Kat. 146, Taf. 31].124 Bereits die
Malweise der Werke reicht aus, um die Figuren als
Tronien einzustufen. Zum einen findet sich eine ver-
gleichbare Farbbehandlung in keinem von Flincks
gleichzeitigen konventionellen Porträts. Zum anderen
konnte zur Entstehungszeit der genannten Bilder für
keinen in Amsterdam tätigen Porträtmaler ein kon-
ventionelles oder als Porträt sicher belegtes Bildnis
in Phantasietracht - also Kostümporträt oder portrait
histone - nachgewiesen werden, welches wie Flincks

Alter Mann mit roter Mütze als insgesamt grob gemalt
zu charakterisieren wäre oder aber so starke Transpa-
renzen in der Malschicht aufweisen würde wie der
Junge Schwarze mit Köcher und Bogen.
Flincks im Verlauf seiner Karriere auf Tronien an-
gewandter Umgang mit der Farbe lässt sich interes-
santerweise zu einer bekannten Passage in van Man-
ders Grondt der edel vry schilderconst in Beziehung
setzen. Darin rühmt van Mander in Anlehnung an
Vasari Tizians skizzenhaft-rauen, auf Fernsicht be-
rechneten Spätstil und betont, dass die scheinbar mü-
helose Maltechnik ein hohes Maß an Erfahrung und
künstlerischem Können verlange.125 Weiter unten
empfiehlt er dann, dass ein Maler zunächst eine sorg-
fältig-feine Maltechnik erlernen solle, ehe er sich der
>groben Manier< zuwende.126 Zu dieser kunsttheo-
retischen Vorgabe weist Flincks Tronieproduktion
eine bemerkenswerte Parallele auf:127 Seine Ende der
dreißiger, Anfang der vierziger Jahre entstandenen
Tronien lassen gegenüber den frühen Werken, die er
als gerade selbständiger Meister schuf, eine deutliche
Steigerung in der Akzentuierung der individuellen
Handschrift des Künstlers erkennen.128 Bereits die
oben erwähnten Büsten junger Männer in Krakau
[Kat. 135] und St. Petersburg [Kat. 136, Taf. 29] von
1637 zeigen in der Gestaltung des Kostüms Ansätze
zu einer gegenüber Porträts freieren Vortragswei-
se mit sichtbarem Pinselduktus. Die Tatsache, dass
Flinck diese Tendenz in den späteren Tronien offen-
sichtlich fortführte und potenzierte, spricht für eine
kontinuierliche Entwicklung, an deren Anfang die
frühen, zum Teil sehr porträthaft aufgefassten Phan-
tasiefiguren der mittleren dreißiger Jahre stehen.

122 Vgl. u.a. Sumowski 1983-1994, Bd. 2, Kat. Nr. 661, 665; Bd. 5,
Kat. Nr. 2078; Kat. Utrecht / F rankfurt / Luxemburg 1993/94,
Kat. Nr. 23A/B, S. 155-159; Kat. New York 1995/96b, Kat.
Nr. 22, S. 91-93.
123 Die Forschung geht davon aus, dass Flinck ab 1636 selbstän-
dig arbeitete, da er in diesem Jahr die ersten Bilder signierte,
Moltke 1965, S. 14; Sumowski 1983-1994, Bd. 2, S. 998; Kat.
Berlin / Amsterdam / London 1991/92a, S. 314.
124 Vgl. auch den ebenfalls Flinck zugeschriebenen Orientalen
in Liverpool (Walker Art Gallery) [Kat. 149, Abb. 65, S. 310].
Der Alte Mann mit roter Mütze ist signiert und 1639 datiert,
Moltke 1965, Kat. Nr. 181, S. 103; Sumowski 1983-1994, Bd.
2, Kat. Nr. 668. Zur Zuschreibung der Bilder in London und
Liverpool an Flinck vgl. Moltke 1965, Kat. Nr. 180, 183, S.
103; Kat. Liverpool 1977, Bd. 1, Nr. 960, S. 67f.; Sumowski
1983-1994, Bd. 2, Kat. Nr. 672, 677, Bd. 6, S. 3607f.; Brown
in Kat. Madrid / Barcelona 1990/91, Kat. Nr. 51, S. 452;
Kat. London 1992, Nr. P238, S. 120-122; Kat. Den Haag
1992, S. 156.

125 Mander / Miedema 1973, Bd. 1, S. 259f. (fol. 48r-48v), Str.
22-27. Vgl. Vasari / Bettarini / Barrocci-ii 1966-1987, Bd.
6 (1987), S. 166. Vgl. hierzu auch unten, Kap. V.3.1, S. 340 m.
Anm. 34, Kap. V.3.2, S. 346.
126 Mander / Miedema 1973, Bd. 1, S. 260 (fol. 48v), Str. 26:
»Hier heb ick / [...] voor ooghen willen beeiden en stellen /
Tweederley / doch welstandighe manieren / Op dat ghy met
lust u sinnen mocht stieren / Tot het gheen’ uwen gheest meest
sal versnellen: / Maer soude doch raden u eerst te quellen / En
u te wennen / met vlijtighc sinnen / Een suyvcr manier / end’
een net beginnen.« Vgl. hierzu Mander / Miedema 1973, Bd.
2, S. 589 u. S. 600, Nr. XII 26c.
127 Wetering 1991/92, S. 21, bemerkt, dass Rembrandts CEuvre
in seiner Gesamtheit die Befolgung des Ratschlages von van
Mander widerzuspiegeln scheint.
128 Vgl. u.a. auchSumowski 1983-1994, Bd. 2, Kat. Nr. 676, 678,
Bd. 5, Kat. Nr. 2082, 2082a, Bd. 6, Kat. Nr. 2279a.
 
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