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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0199

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Tronien und einfigurige Genre- und Historienbilder

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2.1 Zur Frage der Zuordnung der Utrechter
Halbfigurenbilder zum Bildtyp Tronie
Wenden wir uns zunächst jenen Einfigurenbildern
zu, mit deren Produktion die Utrechter Caravag-
gisten begannen, noch bevor die ersten Tronien von
Lievens, Rembrandt und Hals in Leiden und Haar-
lem entstanden.11 Die Bilder der Utrechter verbindet
eine Reihe äußerer Merkmale mit den bisher unter-
suchten Tronien. Abraham Bloemaerts 1621 datierter
Flötenspieler (Utrecht, Centraal Museum) [Kat. 36,
Taf. 7] - eines der frühesten niederländischen Halb-
figurenbilder in Lebensgröße, die eine Einzelfigur
in Phantasietracht mit Musikinstrument zeigen, -12
lässt dies anschaulich werden: Der Raum, der die Fi-
gur umgibt, wurde stark reduziert und der Bildaus-
schnitt ist auf eine lebensgroße Halbfigur begrenzt;
diese ist phantasievoll gekleidet und könnte durch-
aus nach dem lebenden Modell gemalt sein; dabei
legt der Künstler besonderen Wert auf die überzeu-
gende Darstellung des Gesichtsausdrucks - mit leicht
geöffnetem Mund und scheinbar fragendem Blick
wendet der junge Mann sich dem Betrachter zu; auch
zeichnet sich das Bild durch eine stark fokussieren-
de Lichtführung und ein besonders effektvolles Spiel
von Licht und Schatten im Gesicht der Figur aus.
Offensichtlich verfolgte der Maler ähnliche künstle-
rische Interessen wie später Lievens und Rembrandt
bei der Schöpfung ihrer Tronien, welche ebenfalls eine
auf starke Hell-Dunkel-Kontraste zugespitzte Licht-
regie und die Darstellung eines Individuums mit be-
sonderer Konzentration auf das Gesicht der Figur
beinhalten.
Wie Bloemaerts Flötenspieler sind auch die phan-
tasievoll kostümierten, einzeln und lebensgroß dar-
gestellten Halbfiguren anderer Utrechter Maler
durch ausgeprägte Chiaroscuro-Effekte charakteri-
siert. Außerdem besteht ein wichtiges Merkmal der
Werke in ihrem >Naturalismus< sowie im mimischen
Ausdruck der Figuren, deren Gesichter häufig eine
intensive, meist spontane Gemütsbewegung spie-

geln. So machen z.B. ausgelassen lachende Figuren
einen großen Teil im GEuvre von Malern wie Hen-
drick ter Brugghen und Gerard van Honthorst aus.
Honthorsts Fröhlicher Geiger mit Weinglas (Madrid,
Museo Thyssen-Bornemisza) [Kat. 230, Taf. 50] von
ca. 1624 beispielsweise hebt fröhlich lachend sein
Glas, dessen Inhalt er mit hochgezogenen Brau-
en begutachtet.13 Wie wir gesehen haben, ist gerade
die Affektäußerung des Lachens auch ein zentrales
Thema der Tronien von Frans Hals. In der aufmerk-
samen Beobachtung der Mimik der Figuren besteht
somit eine wichtige Gemeinsamkeit der ersten in den
Nördlichen Niederlanden gemalten Tronien und der
Halbfigurendarstellungen aus Utrecht. Dabei ist hier
ebenso mit einem Einfluss der Utrechter Maler auf
Hals zu rechnen, wie er bereits bezüglich der von
Hals in seinen Einfigurenbildern dargestellten Figu-
rentypen konstatiert wurde.14
In seinem ikonographisch ausgerichteten Aufsatz
aus dem Jahr 1988 zählt Josua Bruyn die Halbfi-
guren der Utrechter Caravaggisten zur Gruppe der
Tronien, ohne diese Klassifizierung allerdings nä-
her zu begründen.15 Zwar bezieht Bruyn sich nach
eigener Aussage auf seine »Definition des >tronie<-
Begriffes«16 im ersten Band des Rembrandt-Corpus,
dort verliert er jedoch kein Wort über Halbfiguren
mit Attributen in der Art der von den Utrechtern
geschaffenen Werke.17 Offensichtlich verwendet der
Autor den Terminus schlicht für reduzierte Einzelfi-
guren, ohne dabei zwischen verschiedenen Formen
von Einfigurenbildern zu differenzieren.
Dieses Verständnis berücksichtigt nicht, dass die
frühen, in Leiden und Haarlem entstandenen Tro-
nien sich prinzipiell Idar von den Halbfiguren der
Utrechter unterscheiden und damit am Beginn ei-
ner neuen und eigenständigen Entwicklung stehen.
Der Gedanke der Reduzierung eines nicht der Gat-
tung Porträt angehörenden Bildes auf eine Einzel-
figur wurde von Lievens, Rembrandt und Hals
weitergetrieben, indem sie Bildinhalt und/oder

11 Allgemein zum Werk der Utrechter Caravaggisten vgl. u.a.
Nicolson 1958; Slatkes 1965; Klessmann 1988; Nicolson /
Vertova 1990; Roethlisberger 1993; Kat. Utrecht / Frank-
furt / Luxemburg 1993/94; Kat. Utrecht / Braunschweig
1986/87; Seelig 1997; Kat. San Francisco / Baltimore / Lon-
don 1997/98; Judson / Ekkart 1999; Slatkes / Franits 2007.
12 Kat. Utrecht / Braunschweig 1986/87, Kat. Nr. 44, S. 213.
Vgl. auch Kat. San Francisco / Baltimore / London 1997/98,
Kat. Nr. 37, S. 242.

13 Zur Datierung des Bildes vgl. Judson / Ekkart 1999, Kat. Nr.
242, S. 191f.
14 Vgl. oben, Kap. II.1.7, S. 72.
15 Bruyn 1988a, bes. S. 72, 74. Vgl. auch Stukenbrock 1993, S.
36f.; Raupp 1995b, S. 13f.
16 Bruyn 1988a, S. 74.
17 Vgl. Bruyn 1982, S. 40, Anm. 8.
 
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