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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0206

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186

Verbreitung und Formen der Tronie

den zwanziger Jahren malte.45 Der Figurentypus ist
mit Hals’ >Zigeunerin< [Kat. 217, Taf. 46] vergleich-
bar. Offensichtlich orientierte sich Backer bei der
Schöpfung des Alten Mannes mit Spiegelscherbe und
der Jungen Frau mit Medaille nicht nur an dem ins-
besondere durch die Utrechter Caravaggisten in den
Nördlichen Niederlanden verbreiteten Typus halb-
figuriger Fünf-Sinne-Darstellungen, sondern ebenso
an den Tronien von Rembrandt und Hals.
Auch andere holländische Künstler, die wie Ba-
cker nicht zu den Erfindern des Bildtyps Tronie
gehörten, übernahmen tronietypische Merkmale in
ihre einfigurigen Genre-, aber auch Historienbilder.
Für Lesires Sibylle von Cumae (unbekannter Besitz)
[Kat. 267, Taf. 56] wurde bereits darauf hingewiesen,
dass das Gemälde dem Vorbild rembrandtesker Tro-
nien lesender Greisinnen folgt. Dies gilt für das Motiv
als solches wie auch für die maltechnische Ausfüh-
rung des Bildes. Frans van Mieris inszenierte Gen-
refiguren mit Attributen, wie z.B. sein so genanntes
>Selbstbildms< mit Weinrömer von 1679 (Privatbesitz)
[Kat. 351, Taf. 75] und den Leierkastenspieler in Tu-
rm (Galleria Sabauda) [Kat. 352], in porträtähnlicher
Pose mit Blick zum Betrachter, also in einer Weise,
die für Tronien typisch ist. Die expressive Mimik der
Figuren lässt dabei keinen Zweifel an ihrem Status als
genrehafte Charakterdarstellungen.
Ein weiteres Beispiel sind Adriaen van Ostades
bäuerliche Brustbilder und Halbfiguren mit Attri-
buten, bei denen der Akzent der Darstellung vielfach
wesentlich stärker auf Physiognomie und Gesichts-
ausdruck der Figuren liegt als auf einer bestimmten,
das jeweilige Attribut einbeziehenden Handlung.
Hier ist etwa die Halbfigur eines Bauern mit Tonpfei-
fe in Hamburg (Hamburger Kunsthalle) [Kat. 363] zu
nennen. Darüber hinaus sind van Ostades emfigurige
Genrebilder durch eine ausgesprochen freie Farbbe-
handlung gekennzeichnet, wie sein Lachender Mann
mit Krug in Amsterdam (Rijksmuseum) [Kat. 367,
Taf. 78] verdeutlicht. Die Art der Ausführung solcher
Bilder trug wesentlich zu ihrer Beliebtheit bei und ist
45 Eine im Museum in Kiew aufbewahrte Version des Bildes
galt im späten 18. Jahrhundert bezeichnenderweise als Werk
von Frans Hals, Bauch 1926, Kat. Nr. 74, S. 83; Sumowski
1983-1994, Bd. 1, Kat. Nr. 25.
46 Vgl. auch Rembrandts Bellona. (New York, Metropolitan
Museum of Art) [Kat. 420],
47 RRP 1982-2005, Bd. 2, Kat. Nr. A93, S. 498f.; Kat. Berlin /
Amsterdam / London 1991/92a, Kat. Nr. 23, S. 190f. Vgl. auch
oben, Kap. III. 1.2, S. 122.

als zentrale Darstellungsintention des Künstlers zu
begreifen, wie in Kapitel V.3 zu zeigen sein wird.
Festzuhalten bleibt, dass mit signifikanten Attri-
buten ausgestattete Werke wie die genannten Brust-
bilder und Halbfiguren Backers, Lesires, van Mieris’
und van Ostades dem Bildtyp der Tronie sehr nahe
stehen und aus künstlerischer Sicht sogar dazu gezählt
werden können, in ikonographischer Hinsicht aber
zur Gruppe einfiguriger Genre- bzw. Historienbilder
gehören. Hierin besteht insofern kein Widerspruch
als Tronien, wie in Kapitel III.4 erläutert wird, als
eine künstlerische Aufgabe aufzufassen sind, die je
nach spezifischer Ausprägung innerhalb der Histo-
rien- und der Genremalerei zu verorten ist und nicht
etwa außerhalb derselben steht.
2.4 Bildausschnitt und Hintergrundgestaltung
als Kriterien der Abgrenzung von Tronien
gegenüber anderen Einfigurenbildern
Ein großer Teil der von Troniemalern geschaffenen
Einfigurenbilder kann dem Bildtyp Tronie nicht zuge-
rechnet werden, weil die Werke aufgrund bestimmter
äußerer Merkmale von diesem abzugrenzen sind. Eine
wichtige Rolle spielt hierbei die Wahl des Bild- bzw. Fi-
gurenausschnitts. Streng genommen sind Dreiviertel-
oder Kniefiguren kaum mehr als Tronien zu bezeich-
nen, da deren primärer Darstellungsgegenstand der
Kopf eines Menschen ist. In Rembrandts als Kniefi-
guren präsentierten Flora-Darstellungen in St. Peters-
burg (Eremitage) [Kat. 427, Taf. 91] und London (Na-
tional Gallery) [Kat. 428, Taf. 91] beispielsweise kommt
dem Gesicht der Figuren gegenüber der Schilderung
des Körpers bzw. Kostüms und des Blumenschmucks
eher zweitrangige Bedeutung zu.46 Die Gesichtszüge
der Dargestellten wirken stark idealisiert und erinnern
nur entfernt an die Physiognomie Saskias,47 so dass eine
Porträtabsicht, die in der Forschung immer wieder un-
terstellt wird, auszuschließen ist.48 Gleichzeitig man-
gelt den Figuren damit jedoch auch die Wendung ins
48 Eine Porträtabsicht wird angenommen von Wishnevsky 1967, S.
107; Tümpel 1986, S. 110; Kat. London 1991a, Bd. 1, Kat. Nr.
4930, S. 355f. Kettering 1983, S. 58-62, versteht Rembrandts
Flora-Darstellungen als Kombination zweier Typen, der einfachen
Hirtin und der Naturgöttin Flora, wobei weitere Bedeutungs-
ebenen wie die Personifizierung des Frühlings und des Geruchs-
sinns in die Darstellung eingeschlossen seien. Winkel 2006,
S. 240-243, hält die Deutung der Figuren als Hirtinnen dagegen
für irreführend, da Hirtenstab und Strohhut fehlen, und plädiert
für ihre Interpretation als Darstellungen der Göttin Flora.
 
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