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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0231

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Überblick zu Verbreitung und Erscheinungsformen

211

Auch weibliche Tronien wurden gelegentlich, wenn
auch seltener als männliche Figuren, in einem aus zeit-
genössischer Sicht orientalischem Kostüm dargestellt.
Allerdings ist ihre Kleidung meist nur durch bestimm-
te Versatzstücke als orientalisch ausgewiesen und ent-
spricht nicht der realen Tracht osmanischer oder per-
sischer Frauen, für deren Aussehen kaum authentische
Vorbilder existierten.76 So tragen die Govaert Flinck zu-
geschriebene Junge Frau77 in Chatsworth (Devonshire
Collection) [Kat. 140] und Cornelis Bisschops Betende
alte Frau in der S0R Rusche-Sammlung [Kat. 35, Taf.
6] zwar einen Turban. Doch gehörte ein solcher weder
zur Tracht der Frauen des Orients noch ist der Rest des
Kostüms der genannten Tronien orientalischen Ur-
sprungs.78 Auch Elemente wie die gestreiften oder bunt
bestickten Kopftücher, mit denen weibliche Tronien
wie z.B. Lievens’ Lesende alte Frau in Amsterdam (Rijks-
museum) [Kat. 276, Taf. 58] ausgestattet sind, wurden
mit dem Orient assoziiert.79 80 Da bei der Gestaltung der
reichen Tracht von Tronien alter Frauen fiktive, fremd-
ländische und historisierende Elemente in freier Varia-
tion kombiniert werden, bietet es sich an, die entspre-
chenden Figuren in einer Gruppe zusammenzufassen
(vgl. Tab. 1, Nr. IV. 1.). Hierfür spricht auch, dass die
Greisinnen in reicher Phantasietracht unabhängig von
der Zusammenstellung ihres Kostüms vielfach densel-
ben Figurentypus, nämlich den der weisen alten Frau

- Prophetin, Sybille o.Ä. - verkörpern. Unterstrichen
wird diese Rollenbestimmung häufig durch die Beigabe
eines Buches [Kat. 91, Taf. 16, Kat. 276, Taf. 58, Kat.
448, Taf. 95, Kat. 529, Taf. 109].S0
Was fremdländische Kleidungsstücke als Inspira-
tionsquelle angeht, so rekurrierten die Künstler
durchaus nicht nur auf orientalische Tracht. Junge
Männer und Knaben tragen z.B. gelegentlich einen
Überrock, der mit Reihen von Querlitzen versehen
ist. In der Forschung wird eine derartige Bekleidung
mit polnischer Tracht in Zusammenhang gebracht.
So äußern die Autoren des RRP eine entsprechende
Vermutung im Falle der in der ersten Hälfte der drei-
ßiger Jahre in Rembrandts Werkstatt oder seinem
Umkreis entstandenen Knabentronien in St. Peters-
burg (Eremitage) [Kat. 477, Taf. 101] und England
(Privatbesitz) [Kat. 478].81 Hierbei ist allerdings in
Betracht zu ziehen, dass Kaftane mit Litzenbesatz
nicht nur von Polen, sondern auch von Russen, Un-
garn, Türken, Persern und anderen osteuropäischen
und asiatischen Völkern getragen wurden.82 In Ver-
bindung mit einer Pelzmütze, wie sie Jacob Backers
Junge mit Federhut (Rotterdam, Museum Boijmans
Van Beuningen) [Kat. 20, Taf. XII, 4] trägt, ist ein
mit Litzen besetzter Rock dagegen eindeutiger als
polnisch zu bestimmen.83 Ebenfalls um ein Kostüm

76 Vgl. Winkel 2001, S. 62; dies. 2006, S. 262—269. Zur Tracht
von Orientalinnen vgl. Weiss 1872, Bd. 2, S. 717-723; Nien-
HOLDT 1961, S. 264-268, 272f., 275-277. Vgl. außerdem die
Kostüme der Orientalinnen in Vecellio 1977, S. 113f., 118,
142f.; Weigel 1577, u.a. Nr. CCIII, CCVII; Boissard 1596,
passim; sowie die entsprechenden Abbildungen in Feher
1978; Robinson 1976; Soudavar 1992.
77 Zur Zuschreibung des Bildes an Flinck vgl. Sumowski 1983-
1994, Bd. 2, Kat. Nr. 659. Bruyn 1987a, S. 226,233, Anrn. 31,
hält die Autorschaft Flincks für zweifelhaft.
78 Vgl. Winkel 2006, S. 262.
79 Vgl. Kat. Melbourne / Canberra 1997/98, Kat. Nr. 35, S.
220; Winkel 2006, S. 255.
80 Vgl. auch Sumowski 1983-1994, Bd. 1, Kat. Nr. 349, 377, Bd.
5, Kat. Nr. 2051.
81 RRP 1982-2005, Bd. 2, Kat. Nr. C63, S. 706, Kat. Nr. C64, S.
709. Vgl. auch Pieter Quasts Mann in polnischer Tracht (un¬
bekannter Besitz) [Kat. 372, Taf. 79]. Zur Identifizierung des
Kostüms vgl. RRP 1982-2005, Bd. 3, S. 247. Vgl. auch Broos
1974, bes. S. 200. Dass polnische Kleidung bekannt war und Ma-
ler die Dargestellten ihrer Einfigurenbilder damit ausstatteten,
belegen auch zeitgenössische Inventare. Vgl. z.B. GPI1994-2003,
N-2477, Nr. 0044 (Inv. Josina van Nesten u. Claes Claesz. Maen-
beeck, Haarlem 4.9.1662): »een poolse tronij«; GPI 1994-2003,
N-2176, Nr. 0085 (Inv. Lambert Hermansz. Blaeuw, Amsterdam

15.5.1648): »Een siecht schildenj van een Pool f. 1:5:-.«; GPI
1994-2003, N-490, Nr. 0055 (Inv. Jan Wijnkoop u. Aertie Renst,
Amsterdam 11.3.1701): »Een schilderij zijnde een Pooltjc«; GPI
1994-2003, N-402, Nr. 0044 (Inv. Catharina Elisabeth Bode,
Witwe von Valerius Rover, Amsterdam 27.10.1703): »Een be-
schilderd doek met een Polak.«
82 Zur polnischen, russischen und ungarischen Tracht des 16.
und 17. Jahrhunderts vgl. Weiss 1872, Bd. 2, S. 687-703,
1065-1067; Nienholdt 1961, S. 183-200; Gutkowska-
Rychlewska 1968, S. 337-436, 494-528, 542-574; Turnau
1991, S. 17-26, 71-79, 91-102. Nienholdt 1961, S. 183, 194,
führt aus, dass der Kaftan ursprünglich em Kleidungsstück
der zentralasiatischen Völker war, das von den tatarisch-
mongolischen Eroberern in Osteuropa eingeführt wurde.
Der querliegende Litzenbesatz sei aus der alttürkischen
Tracht abgeleitet. Vgl. auch Weiss 1872, Bd. 2, S. 690, 694;
Goetz 1938, S. 287. Für Trachtenbücher mit Darstellungen
osteuropäischer Kostüme vgl. z.B. Bruyn 1581, passim;
Weigel 1577, u.a. Nr. CLXVIII, CLXXI, CLXXII; Vecel-
lio 1977, S. 92, 105-109, 124-126.
83 Für diesen Hinweis danke ich Frau Dr. Marieke de Winkel
(Nijmegen), die mir freundlicherweise das unveröffentlich-
te Manuskript eines Beitrages zum Polnischen Reiter (New
York, Frick Collection) für Bd. 5 des Rembrandt-Corpus
(RRP) zur Verfügung stellte.
 
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