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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0244

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224

Verbreitung und Formen der Tronie

4.2 Die Tronie als Bildaufgabe der
Historien- und der Genremalerei
Das Verhältnis von Tronien zur Historien- und
Genremalerei wurde im Verlauf der bisherigen Un-
tersuchung bereits mehrfach thematisiert. Schon bei
der Behandlung der Tronieproduktion der zwanzi-
ger und frühen dreißiger Jahre zeigte sich, dass die
Tronien von Lievens, Rembrandt und Hals in enger
Auseinandersetzung mit den Historien bzw. Genre-
bildern der Meister entstanden. In Kapitel III.2 wur-
de dargelegt, dass sich zwischen Tronien und einfi-
gurigen Historien- und Genrebildern verschiedene
Überschneidungen ergeben können. Der Überblick
über die unterschiedlichen Tronietypen, die sich im
17. Jahrhundert entwickelten (Kap. III.3.2), mach-
te deutlich, dass das Erscheinungsbild von Tronien
weitgehend mit dem Aussehen der Figuren auf His-
torien- und Genrebildern übereinstimmt. Präzisiert
wurde diese Einschätzung im vorangehenden Kapitel
zu den Arbeits- und Spezialgebieten von Troniema-
lern: Künstler, die sich mit Tronien befassten, waren
in aller Regel als Historien- oder als Genremaler, viel-
fach auch auf beiden Gebieten tätig. Darüber hinaus
schufen Historienmaler bevorzugt Tronien, die dem
Figurentyp nach mit den Protagonisten ihrer Histo-
rien zu vergleichen sind. Im Werk von Genremalern
kommen dagegen Tronien vor, die aussehen wie das
Personal der Genrebilder der betreffenden Meister.
Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen ist
es nicht sinnvoll, Tronien im akademisch-kunsthis-
torischen System der Gattungen einen eigenständi-
gen Platz zuweisen und den Bildtyp als unabhängige
>Gattung< definieren zu wollen, wie dies von einigen
Autoren vorgeschlagen oder zumindest nahe gelegt
wird.45 Vielmehr sind die Werke im Sinne einer spe-
zifischen künstlerischen Aufgabe zu verstehen, die
innerhalb der Gattungen Historie und Genre zu
verorten ist.46 Bei der Zuordnung von Tronien zur
Historien- oder Genremalerei stellt sich allerdings
ein grundsätzliches Problem: Nach den Maßgaben
der akademischen Gattungstheorie wären Tronien
ohne ikonographische Festlegung auf die Identität
45 Vgl. oben, Kap. III.4.1., S. 217 m. Anm. 2.
46 In der zeitgenössischen Kunsttheorie findet sich keinerlei
Hinweis darauf, dass Tronien als eigene Bildgattung angese-
hen worden wären.
47 Vgl. z.B. Blankert 1980/81a, S. 18; Gaehtgens 1996, S. 16f.;
DA 1996, Bd. 14, S. 581-585.

einer bestimmten Person auch dann der Genrema-
lerei zuzuordnen, wenn es sich um Figuren handelt,
die von Historienmalern geschaffen wurden und
deren Erscheinungsbild demjenigen des Bildperso-
nals auf Historienbildern entspricht. Denn in der
Forschung wird die Vergegenwärtigung bestimmter,
identifizierbarer oder wenigstens als identifizierbar
intendierter Personen von Bedeutung als wesent-
liches Kriterium für die Einstufung eines Gemäldes
als Historienbild gewertet.47 Bilder mit anonymen
Figuren werden dagegen der Genremalerei zugeord-
net.48 Eine dem heutigen Verständnis von den Gat-
tungen folgende Beurteilung von ikonographisch
nicht festgelegten Tronien in reicher Phantasietracht
als >Genrebilder< scheint jedoch aufgrund der engen
Bindung der Werke an die Historienmalerei wenig
überzeugend. Zudem birgt die Klassifizierung von
Tronien gemäß der modernen Gattungstheorie die
Gefahr des Anachronismus. Es fragt sich, in welcher
Weise die Zeitgenossen Tronien ohne signifikante
Attribute beurteilten und ob ihre Sicht der Bilder
mit der akademischen Gattungseinteilung überhaupt
vereinbar ist.
Freilich existierte im 17. Jahrhundert weder eine
ausformulierte Theorie zu Form, Inhalt, Funktion und
Aufgabenstellung der fünf Bildgattungen,49 noch
entwickelten die Kunsttheoretiker der Zeit ein ko-
härentes System, das eindeutige und umfassende
Bewertungs- und Deutungsmaßstäbe für die ver-
schiedenen in den Niederlanden verbreiteten Bild-
sujets liefern würde. Damit sind der Anwendbarkeit
theoretischer Äußerungen in der Kunstliteratur enge
Grenzen bei der Bestimmung der zeitgenössischen
Rezeption bestimmter Bildtypen und -gattungen
gesetzt. Dennoch bietet die Kunsttheorie eine Rei-
he von Anhaltspunkten dafür, dass ikonographisch
nicht festgelegte Tronien aus Sicht der damaligen Be-
trachter in der Gattungshierarchie - vergleichbar mit
Historienbildern - an erster Stelle stehen konnten.
Zunächst einmal ist zu fragen, ob es überhaupt his-
torisch gerechtfertigt ist, Einfigurenbilder ohne
narrativen Kontext - Bilder also, auf denen weder
48 Vgl. u.a. Jongh 1978, S. 11; Vries 1983, S. 117f.; Sutton
1984; Blankert 1987, bes. S. 16; L. Helen in DA 1996, Bd.
12, S. 286-298, hier bes. S. 289-291; Gaehtgens 2002, bes. S.
13. Vgl. auch jüngst Franits 2004, mit der älteren Literatur.
49 Vgl. Raupp 1983, S. 401; Brenninkmeyer-de Rooij 1984, S.
64f.; Haak 1984, S. 77, 85; Sutton 1984, S. XIVf.; Czech
2002, S. 271.
 
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