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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0276

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256

Die wechselseitige Beeinflussung von Porträt und Tronie

Unabhängig davon, ob die holländischen Maler
bei der Produktion ihrer orientalisch kostümierten
Tronien tatsächlich auf gedruckte Bildnisse osma-
nischer Herrscher und anderer hochrangiger Wür-
denträger des Orients zurückgriffen, konnten die
entsprechenden Tronien von Kunstliebhabern und
-Sammlern mit derartigen Bildern in Verbindung
gebracht werden. Ähnliches gilt auch für radierte
Tronie-Serien wie diejenigen von Jan Lievens [Kat.
323, 325-328, 330, Taf. 69-70, Kat. 324, 329]: Ohne
Zweifel erinnerten sie die Zeitgenossen an gedruck-
te Porträtserien berühmter Männer und Frauen, die
seit der Renaissance in ganz Europa in großer Zahl
publiziert wurden.54
In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage
auf, ob die Künstler bei der Schöpfung gemalter und
radierter Tronien, die als Phantasiebildnisse aufge-
fasst werden können, die Darstellung bestimmter,
also benennbarer Personen intendierten und die Fi-
guren von den Zeitgenossen entsprechend interpre-
tiert wurden. Hierin eingeschlossen ist letztlich die
allgemeine Frage nach der ikonographischen Fest-
legung und Bedeutung von Tronien ohne identitäts-
öder bedeutungsstiftende Kennzeichen oder Attri-
bute - unabhängig davon, ob es sich um besonders
porträthaft wirkende Figuren handelt oder nicht.
1.2 Möglichkeiten variabler Deutung
durch den Betrachter
Die Rembrandt-Forschung bildet nicht nur für die
allgemeine Beschäftigung mit dem Phänomen >Tro-
nie< den Ausgangspunkt, sondern auch für die Aus-
einandersetzung mit der Frage nach Bedeutung und
ikonographischem Gehalt der Werke. Einen für die

Interpretation der Tronien Rembrandts besonders
einflussreichen Ansatz vertritt Christian Tümpel.55
Der Autor bemerkt, dass die »Tronien von alttesta-
mentlichen oder orientalischen Fürsten und Schrift-
gelehrten [...] oft nicht zu benennen« sind und für
den heutigen Betrachter vieldeutig bleiben, wenn sie
»keine speziellen ikonographischen Motive in den
Händen tragen.« Gleichzeitig nimmt Tümpel jedoch
an, dass »Rembrandt oder der Auftraggeber an be-
stimmte historische Personen gedacht haben«56 mag.
Die Identifikation der Figuren werde allerdings nur
durch das Auffinden von Vorbildern, auf die Rem-
brandt Bezug nehme, ermöglicht. Da entsprechende
Vorlagen für die Tronien Rembrandts und seiner
Schüler jedoch nur selten nachzuweisen sind, bleiben
Tümpels Identifikationen in den meisten Fällen auf
allgemein gehaltene Angaben beschränkt. So deutet
er z.B. das Brustbild eines Orientalen in Amster-
dam (Rijksmuseum) [Kat. 429] als »orientalischen
Helden« und die Halbfigur eines bärtigen Mannes
mit Barett in London (National Gallery) [Kat. 447,
Taf. 95] als »historische Figur.«57
Es gibt allerdings auch Tronien ohne Attribute,
denen Tümpel eine konkretere Identität zuschreibt.
Rembrandts Betende alte Frau in Salzburg (Residenz-
galerie) [Kat. 393, Taf. I, 83] beispielsweise interpre-
tiert der Autor als Darstellung der Prophetin Hanna
und schließt sich damit der Auffassung Kurt Bauchs
an.58 Auch die Autoren des RRP halten diese Deu-
tung der alten Frau für möglich, weisen jedoch da-
rauf hin, dass keine ikonographische Tradition bekannt
sei, die bezeuge, dass die Halbfigur einer betenden alten
Frau im 17. Jahrhundert als Prophetin Hanna verstan-
den wurde.59 Rembrandts Lesenden Mönch in Helsinki
(Sinebrychoff Museum) [Kat. 456] hält Tümpel für die
Darstellung des heiligen Franziskus.60 Allerdings wird

54 Die umfangreiche Literatur zu Porträtbüchern und -Serien
der viri illustri bzw. uomini illustri/famosi oder illustrium
imagines kann hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden.
Vgl. u.a. Rave 1959; Clough 1993; Haskell 1995, S. 37-93;
Marschke 1998, S. 137-176; Pelc 2002, sowie oben, Kap.
II.3.4, S. 111, Anm. 66.
55 Tümpel 1986, bes. S. 187, sowie im Katalogteil, passim. Tüm-
pels Ausführungen geben keinen genauen Aufschluss darü-
ber, ob und inwiefern er zwischen »Tronien und historischen
Figuren« (S. 187) unterscheidet.
56 Tümpel 1986, S. 187. Vgl. auch Tümpel 1971, S. 32f.; ders.
1999, S. 32. Einen ähnlichen Gedanken äußert bereits Ger¬
son 1969, S. 56. SuMOWSKl 1983-1994, Bd. 1, S. 135, bezeich¬
net Tronien in verallgemeinernder Weise als Bedeutungs¬
bilden mit literarischem, religiösem oder allegorischem Sinn.

Vgl. auch ebd., S. 23, Anm. 68, S. 609; Stukenbrock 1993, S.
36.
57 Tümpel 1986, Kat. Nr. A38, S. 424, Kat. Nr. 142, S. 407. Wäh-
rend das Brustbild eines Orientalen in RRP 1982-2005, Bd.
3, Kat. Nr. C101, noch als Werkstattarbeit angesehen wird,
schreibt van de Wetering das Gemälde Rembrandt jüngst
wieder zu, RRP 1982-2005, Bd. 4, Kat. Nr. III C101, S.
635f.
58 Tümpel 1986, Kat. Nr. 75, S. 398. Vgl. Bauch 1960, S. 170;
ders. 1966, Kat. Nr. 250.
59 RRP 1982-2005, Bd. 1, Kat. Nr. A27, S. 274. Auch P.J.J. van
Thiel in Kat. Berlin / Amsterdam / London 1991/92a, Kat.
Nr. 6, S. 140, spricht sich gegen die Deutung der Figur als
Hanna aus.
60 Tümpel 1986, Kat. Nr. 92, S. 400.
 
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