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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0351

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Tronien als Ausdrucksträger

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demnach nicht nur als Ausgangspunkt, sondern ihm
gilt auch das Hauptaugenmerk des Künstlers bei der
Darstellung der Affekte seiner Figuren.
Eine Passage aus Alexander van Fornenberghs Bio-
graphie des Malers Quentin Massys macht deutlich,
dass der zeitgenössische Betrachter es gewohnt war,
die Emotionen der Protagonisten auf Figurenbildern
an deren Gesichtern abzulesen. Über eine (nicht
identifizierte) Darstellung der »Ungleichen Liebe«
von Massys schreibt der Autor:
»Ick, hebbe van hem [Quentin Massys] ghehadt een borst-stucks-
ken, Tronien soo groot als ct leven, wesende eenen ouden Ver-
liefden, die (met een grenickende wesen) een jongh Meysken een
ghesloten ghevulde borse met Geldt laet sien [...], wijl het Meys-
ken de snoeren ghevat heeft met de eene handt, ende met d’ander
hem omhelsende, schijnt natuerlijck te lacchen. Hier saghmen de
eygentlijcke inwendighe Passien, der weer-sijdsche begeerlijck-
heydt, uyt-wendigh inde Tronyen speien.«11
Neben der Auffassung, dass sich die Affekte der Fi-
guren auf einem gelungenen Bild vor allem in ihren
Gesichtern spiegeln, gehörte zu den in der zeitgenös-
sischen Kunsttheorie vertretenen Grundannahmen,
die sich auf die Aussagekraft des Gesichts beziehen,
auch die Vorstellung, dass selbiges Aufschluss über
Geist und Charakter eines Menschen gebe.21 22 Dass
Junius’ Beurteilung der äußeren Erscheinung eines
Menschen von diesem Verständnis geprägt ist, zeigt
sich besonders deutlich in einem Appendix, der sei-
nem Traktat nur in den lateinischen Ausgaben bei-
gefügt ist.23 Darin beschäftigt sich der Autor unter
anderem mit dem Verhältnis von Leib und Seele: Er
deutet körperliche Schönheit als Zeichen eines ed-
len Geistes, körperliche Hässlichkeit aber als Indiz
für einen schlechten Charakter und bezieht auch
den Kopf bzw. das Gesicht in seine Betrachtungen
21 Fornenbergh 1658, S. 29. Zit. nach Muylle 2001, S. 199
(Hervorheb. bei Muylle). Für Literatur zu Massys Darstel-
lungen ungleicher Paare vgl. ebd., S. 199, Anm. 2.
22 Vgl. Wiemers 1987/88, bes. S. 257; Muylle 2001, S. 175, 194,
198-204.
23 1694 wurde die lateinische Ausgabe von 1637 in erweiterter
Form erneut aufgelegt, Junius / Aldrich / Fehl 1991, S.
XIVf. Zu dem Appendix vgl. Junius / Aldrich / Fehl 1991,
S. 331-359.
24 Vgl. Junius 1637, Kap. IX, S. 229-287, bes. S. 230-233, § 2;
Kap. X, S. 287-293, sowie speziell zur Gestalt des mensch-
lichen Kopfes ebd., Kap. IX, S. 235f., § 4.
25 Junius / Aldrich / Fehl 1991, S. 233. Auch Keith Aldrich
und Philipp und Raina Fehl zufolge bezieht sich Junius be¬
reits in seiner Diskussion von »Motion or Life« nicht einzig
auf die Darstellung von Emotionen, sondern in Anlehnung

mit ein.24 Zudem schreibt Junius bereits im dritten
Buch seines Traktats: »there is ever in the outward
lineaments of our face an evident proof of our in-
ward inclinations.«25 Eine vergleichbare Auffassung
findet sich auch bei anderen niederländischen Kunst-
theoretikern des 17. Jahrhunderts,26 so etwa bei van
Hoogstraten, der »het aengezicht« in seiner Inley-
ding als »een spiegel des geests«27 bezeichnet.
Der Gedanke, dass die äußere Erscheinung die We-
senszüge eines Menschen, das heißt seinen Charak-
ter und seine Gemütsregungen, abbilde, wurzelt in
den physiognomischen Lehren der Antike.28 Diese
setzen ein Kausalverhältnis zwischen Äußerem und
Innerem, Leib und Seele des Menschen voraus, und
bemühen sich, den entsprechenden Zusammenhang
in einem »zeichenrelationalen Regelkodex zu fas-
sen.«29 Es wird der Versuch unternommen, »mittels
binärer Zuordnung von Merkmal und Eigenschaft
eine objektive Semiotik der Zeichen des mensch-
lichen Körpers festzulegen, um die charakterliche
und moralische Seite jedes Menschen lesbar und
durchschaubar zu machen.«
Als eine der besonders einflussreichen Schriften
der Antike sind hier die pseudo-aristotelischen Phy-
siognomika (Ende 4. Jahrhundert v. Chr.?) zu nen-
nen.30 Vom Leib-Seele-Theorem ausgehend, werden
darin verschiedene methodische Ansätze zur rich-
tigen »psychologischem Interpretation der äußerlich
wahrnehmbaren Gestaltmerkmale eines Menschen
entwickelt. Im Wesentlichen zählen dazu die »zoo-
logische Methode<, die »ethnologische Methode< und
die »pathognomische Methoden Erstere beruht auf
dem Vergleich des Äußeren von Mensch und Tier:
Ähnelten die Gesichtszüge und/oder die körperliche
Beschaffenheit eines Menschen dem Aussehen eines
an Quintilian auch auf die Darstellung des Charakters einer
Figur, Junius / Aldrich / Fehl 1991, S. 364.
26 Vgl. hierzu unten, S. 324f.
27 Hoogstraten 1678, S. 41. Vgl. Cicero / Merklin 1976,
Buch 3, § 221, S. 586: »imago [est] animi vultus.« Ciceros
Diktum stellte schon in der Literatur der Renaissance einen
Gemeinplatz dar, Sullivan 1994, S. 83.
28 Vgl. Evans 1969; Reisser 1997, S. 19-40.
29 Reisser 1997, S. 9, dort auch das folgende Zitat.
30 Dabei handelt es sich um das anonyme Fragment einer ver-
lorenen Schrift aus der peripatetischen Schule, die bis ins 17.
Jahrhundert hinein fälschlicherweise Aristoteles zugewiesen
wurde. Vgl. hierzu sowie zum Folgenden Evans 1969, S.
5-10; Reisser 1997, S. 9f., 19-26; Muylle 2001, S. 180. Auch
van Hoogstraten 1678, S. 42f., bezieht sich bei der Behand-
lung physiognomischer Lehren auf Aristoteles.
 
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