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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0352

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324

Bedeutung, Funktion und Wertschätzung von Tronien

bestimmten Tieres, könne von dessen Eigenschaften
und natürlichen Anlagen auf den Charakter und die
Neigungen des Menschen geschlossen werden. Zwei-
tens wird die Abhängigkeit des Äußeren eines Men-
schen von seiner ethnischen Herkunft konstatiert
und daraus abgeleitet, dass unter anderem auch die
Volkszugehörigkeit eines Menschen seinen Charakter
bestimme. Drittens schließlich geht Pseudo-Aristoteles
davon aus, dass die einen bestimmten mimischen Aus-
druck verursachenden Gemütsregungen eines Menschen
besonders bei häufigem Auftreten Spuren im Gesicht
hinterlassen, welche Aufschluss über das Wesen der
betreffenden Person geben. Damit wird ein unmittel-
barer Zusammenhang zwischen Affektausdruck und
charakterlicher Disposition eines Menschen herge-
stellt.
Abgesehen von der Physiognomik dienten in der
Antike auch die Astrologie und die in der antiken
Humoralphysiologie wurzelnde Säfte- bzw. Tempe-
ramentenlehre zur Klassifizierung unterschiedlicher
Charaktertypen.31 Erst in Mittelalter und Renais-
sance wurden diese Wissensgebiete allerdings als
fester Bestandteil in physiognomische Handbücher
integriert.32 33
Die antike Physiognomik erfuhr im 15. und 16.
Jahrhundert eine umfassende Wiederbelebung: Ne-
ben der Neuedition der Quellen wurde die Über-
lieferung in kommentierten Physiognomietraktaten
aktualisiert, die Beschreibungen und oftmals auch Il-
lustrationen der in unterschiedliche Kategorien einge-
teilten Gesichtstypen enthalten." Besonders bekannt
und verbreitet waren die Handbücher von Bartho-
lomäus Codes (1464-1504) und Johannes Indagine
(1467-1537).34 Sie wurden in unzähligen Auflagen
und mehreren Sprachen publiziert. Einen Höhepunkt
der Entwicklung stellt Giovanni Battista della Portas
einflussreiche Schrift De humana physiognomia von
31 Reisser 1997, S. 32-40. Der antiken Astrologie zufolge wur-
den Neigung und Charakter ebenso wie das Schicksal eines
Menschen von den Gestirnen beeinflusst. Die Temperamen-
tenlehre geht davon aus, dass das von dem Mischungsver-
hältnis der vier Körpersäfte bestimmte Temperament eines
Menschen nicht nur für seine Komplexion (also Haut-, Au-
gen- und Haarfarbe) verantwortlich sei, sondern auch seine
Wesensart entscheidend präge. Zur ideengeschichtlichen Ge-
nese der Temperamentenlehre vgl. auch Klibansky / Panofs-
ky / Saxl 1990, S. 39-54; Lütke Notarp 1998, S. 36-47.
32 Reisser 1997, S. 35, 40, 53-55, 95.
33 Vgl. hierzu sowie zu den folgenden Ausführungen Sullivan
1994, S. 78-85; Reisser 1997, S. 52-97.
34 Vgl. Indagine 1523; Cocles 1533.

1586 dar, die im Wesentlichen auf dem Mensch-Tier-
Vergleich basiert.35 Darüber hinaus fanden physio-
gnomische Lehren jedoch auch Eingang in kunsttheo-
retische Schriften des 15. und 16. Jahrhunderts, etwa
in die Werke von Leon Battista Alberti, Leonardo da
Vinci und Pomponius Gauricus.36
Die Traktate verschiedener Kunsttheoretiker des
17. Jahrhunderts zeigen deutlich, dass nicht nur der
Glaube an das Leib-Seele-Verhältnis im Zeitalter des
Barock fortbestand, sondern auch der Anspruch er-
hoben wurde, die Physiognomik als Mittel der Cha-
rakterdiagnostik für die Kunst nutzbar zu machen.
Samuel van Hoogstraten etwa schließt offenkundig
an physiognomische Theorien der Antike und der
Renaissance an, wenn er über die >Kroostkunde<, wie
er die Physiognomik nennt,37 schreibt: »De Kroost-
kunde nu is een kennis van uit de byzonderheden, die
in de aengezichten of tronien der menschen bespeurt
worden, haer landaert, geslacht, geest en neyging des
gemoets te verklaren.«38 Im Folgenden empfiehlt der
Autor, dass der Maler mit Hilfe der Physiognomik
den »geest« der Protagonisten seiner Historienbilder
darstellen solle, damit der Betrachter die Figuren
leicht erkennen könne:
»Nochtans noemtmen het aengezicht een spiegel des geests, en
zijne grootheit moetmen in de weezentlijkheit kennen. En aldus
moet een vernuftich Schilder, wanneer hy eenige Historie voor-
heeft, met een Poetische uitvinding, de geest des persoons, dien
hy will verbeelden, in het wezen brengen, en hem iets geeven,
daer hy aen te kennen zy: Als ontzachhjkheit aen Agamemnon,
listicheit aen Ulisses, onvertzaegtheit aen Ajax, koenheit aen Dio-
medes, en toornicheit aen Achilles. Den manken spitskop Ther-
sites, moetmen ook domheyt en blooheit in ‘t aengezicht schilde-
ren. Maer om deeze gebaeren des gemoets aen te wijzen, en hare
eygenschappen te onderscheyden, zoo wijs ik de konstoeffenaers
tot de geene, die van de Kroostkunde geschreven hebben; doch
voornamentlijk tot haere eygene bedenkingen. «39

35 Haskell 1995, S. 75-79; Reisser 1997, S. 89-93. Allgemein
zur Tierphysiognomik vgl. BaltruSaitis 1984, S. 9-53.
36 Vgl. hierzu Reisser 1997, S. 99-158.
37 Vgl. Ford 1990, S. 123. Zur frühneuzeitlichen Bedeutung des
Wortes >Kroost< vgl. WNT 1882ff., Bd. 8 (1916), Sp. 364-366.
Auch bei Goeree 1682, o.S. [S. 5 der »Voor-reden aan den
bescheiden Leser«], S. 187, taucht >Kroostkunde< als Be-
zeichnung für die Physiognomik auf.
38 Hoogstraten 1678, S. 40. Zu van Hoogstratens Anwendung
dieser Prämisse vgl. auch ebd., S. 96-115.
39 Hoogstraten 1678, S. 41 (Hervorhebung des letzten Satzes
von der Verf.), vgl. auch ebd., S. 102. Eine vergleichbare Auf-
fassung vertritt auch Goeree o.J. [ca. 1680], S. 74f.
 
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