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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0357

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Tronien als Ausdrucksträger

329

Nicht nur tiefe Falten auf der Stirn künden dem Autor
zufolge von einer traurigen Gemütsverfassung. Weiter
unten schreibt er:
»Om nu een droef ghelaet / vol medelijden
En inwendighe passy / sonder störten
Der tränen / te maken / alst beurt somtijden
Salmen de wijnbrauwen ter slincker sijden
Met d’ooghe half toe wat om hoogh’ opschorten
En laten derwaert trecken en vercorten
T’ vouken / dat van de neuse loopt in wanghe
Soo salmen uytbeelden een wesen banghe.«73
Die von van Mander beschriebene faltige Stirn, zusam-
mengezogene Brauen, halbgeschlossene Augen und
eine tiefe, von der Nase ausgehende Falte auf der Wan-
ge sind Merkmale, die z.B. Rembrandts Bärtigen alten
Mann mit Kappe [Kat. 395, Taf. V, 84] auszeichnen.74
Die Tronie verkörpert offensichtlich eine traurige oder
melancholische Gemütsstimmung, die ganz in Einklang
mit der nach zeitgenössischer Vorstellung dem hohen
Alter angemessenen Nachdenklichkeit steht.
Einige Tronien zeigen auch eine Regung, die nur
schwer zu interpretieren ist; doch unterscheiden sie
sich durch eine bewegtere Mimik und Haltung von
Brustbildern und Halbfiguren, deren Ausdruck
als ruhig bzw. neutral zu beschreiben ist. Dies gilt
beispielsweise für Backers >Selbstbildnis< im blauen
Samtmantel und mit Barett (unbekannter Besitz)
[Kat. 15, Taf. 3], dessen zurückgelegter Kopf und
Blick >von oben herab< auf Empfindungen wie Stolz
und Überlegenheit deuten könnten.75 76 Als weiteres
Beispiel ist Lievens’ Tronie eines Mannes mit Hals-
krause™ in St. Petersburg (Eremitage) [Kat. 313, Taf.
67] zu nennen. Mit schwer definierbarem Ausdruck,

aber offensichtlicher innerer Anteilnahme blickt
dieser auf jemanden oder etwas außerhalb des Bild-
feldes. Ähnlich verhält es sich bei Pieter de Grebbers
Brustbild einer jungen Frau in New York (Sammlung
H. H. Weldon) [Kat. 183, Taf. 36],
Die Darstellung von Gefühlsregungen war nicht nur
integraler Bestandteil der Historien- und Genrema-
lerei, auch stellte sie eine besondere Herausforde-
rung an den Maler dar und verlangte nach Ansicht
der Kunsttheoretiker ein hohes Maß an künstleri-
schem Können.77 Dabei wurde gerade dem Gesicht,
wie wir gesehen haben, eine hervorgehobene Be-
deutung für die Vermittlung von Gemütszuständen
beigemessen. Die isolierte Wiedergabe eines Affekts
mit Hilfe einer Tronie führte dem Betrachter somit
einen bestimmten Aspekt künstlerischer Leistungs-
fähigkeit vor Augen. Wahrscheinlich übertrugen die
Zeitgenossen die Wertschätzung, die sie der über-
zeugenden Darstellung von Gemütsbewegungen im
Historien- oder Genrebild entgegenbrachten, auch
auf affektgeladene Tronien und betrachteten sie als
Probestücke der besonderen Befähigung des Malers
zur Verdeutlichung von Emotionen.78
Diese These wird von den Werken selbst ge-
stützt. Aufschlussreich ist etwa das häufige Vorkom-
men lachender Tronien: Gerade die Darstellung des
Lachens und Weinens galt nämlich als besonders
schwierige Aufgabe des Malers.79 Wie leicht die Wie-
dergabe eines lachenden Gesichts in der Praxis miss-
lingen konnte, veranschaulicht Isaac de Joudervilles
Lachender Mann mit Halsberge und goldener Kette
in Den Haag (Museum Bredius) [Kat. 250, Taf. 53].80
Die überzeugende Darstellung lachender Figuren

73 Mander / Miedema 1973, Bd. 1, S. 172 (fol. 26v), Str. 44.
74 Gottwald 2006, S. 167 u. Anm. 53, S. 166.
75 Junius deutet eine entsprechende Haltung wie folgt: »The
head [...] being cast back, [signifieth] arrogance«, Junius /
Aldrich / Fehl 1991, S. 258. Vgl. auch Hoogstraten 1678,
S. 117, demzufolge ein nach hinten geneigter Kopf »hoovaer-
dicheyt en trots« bedeutet.
76 Schneider äußert die Vermutung, Lievens habe den Kopf »als
Studie nach dem eindrucksvollen Bildnis des Antwerpener
Malergildendieners Abraham Graphaeus, von Cornelis de
Vos, im Zunftlokal gemalt«, Schneider / Erklärt 1973, S.
48 (für das Bild von de Vos vgl. Stighelen 1990, Kat. Nr.
7). Dies ist nicht nur deshalb unwahrscheinlich, weil die Ge-
sichtszüge der Dargestellten nicht identisch sind, sondern
auch weil die Tronie offenbar nach dem lebenden Modell
gemalt wurde. Zu dieser Einschätzung vgl. bereits Sumowski
1983-1994, Bd. 3, Kat. Nr. 1283.
77 Vgl. u. a. Mander / Miedema 1973, Bd. 1, S. 159 (fol. 23r), Str.

4; Junius / Aldrich / Fehl 1991, S. 208,264f.; Hoogstraten
1678, S. 87, 109f. Vgl. auch Czech 2002, S. 269.
78 Diese Auffassung vertritt offenbar auch Schwartz 1989, S.
99, wenn er schreibt: »The history painting, whose narrative
was largely read in terms of the emotions of the characters,
was Condensed tnto the tronie, a single psychological state or
character type defined by the physiognomy in isolation.«
79 Im Grondt gibt van Mander Anweisungen zur richtigen
Darstellung des Lachens und des Weinens (Mander / Mie-
dema 1973, Bd. 1, S. 168 (fol. 25v), Str. 36, 37), nachdem er
hervorgehoben hat, wie schwierig die Unterscheidung einer
lachenden und einer weinenden Figur für den Maler sei: »Sy
en hebbent niet crom / die ons verwijten / Dat wy soo qua-
lijck connen onderscheyden / In onse troengen het lachen en
t’ crijten.« Vgl. auch Angel 1642, S. 38; Hoogstraten 1678,
S. llOf.
80 Zur Zuschreibung des Bildes an Jouderville vgl. zuletzt Kat.
Den Haag 1991, Kat. Nr. 80, S. lllf.
 
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