Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0358

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
330

Bedeutung, Funktion und Wertschätzung von Tronien

stellte demgegenüber das Können eines Meisters unter
Beweis und wurde als besonders hohe Leistung ge-
würdigt. Dies gilt ebenso für weinende Tronien. Der
viel zitierte Abschnitt aus Huygens’ Autobiogra-
phie, in dem der Autor Rembrandts Darstellung des
reumütigen, verzweifelt weinenden Judas in einem
Historienbild [Kat. 388, Taf. 81] rühmt, zeugt davon,
welche Bewunderung man der lebensnahen Wieder-
gabe entsprechender Emotionen entgegenbrachte:
»Die Gebärde dieses einen verzweifelten Judas [...], der rast,
winselt, um Verzweiflung fleht, ohne daß er sie erhoffen dürfte,
während doch seine Gesichtszüge von dieser Hoffnung sprechen,
des Judas mit seinem verwilderten Gesicht, den ausgerissenen
Haaren, dem zerrissenen Kleid, die Arme ringend, die Hände
schmerzlich ineinander verkrallt, wie er da in einer blinden Ge-
fühlsaufwallung auf die Knie stürzt, während sein Körper von
wildem Schmerz geschüttelt wird, diese Figur stelle ich jedem
gefälligen Kunstwerk gegenüber, das die Jahrhunderte hervorge-
bracht haben. Ich behaupte nämlich, daß es keinem Protogenes
oder Apelles [...] jemals in den Sinn gekommen wäre, [...] all das,
was (und ich spreche es mit Verwunderung aus) ein junger Mann
[...] an verschiedenen Gemütsregungen in einer einzigen Figur
zusammengefaßt und als ein Ganzes ausgedrückt hat.«81
Für unseren Zusammenhang besonders relevant ist
die Tatsache, dass die von Huygens beschriebene Fi-
gur des Judas aus ihrem ursprünglichen Bildkontext
gelöst und von Jan van Vliet als isolierte Halbfigur
[Kat. 540, Taf. 111] radiert wurde. Ihre druckgra-
phische Verbreitung belegt, dass mit dem Interesse
des Publikums an einer Tronie gerechnet wurde, de-
ren wesentliches Kennzeichen in der Artikulation
eines besonders schwer darstellbaren Affektes oder,
folgt man Huygens, sogar einer Kombination wider-
streitender Gefühle, besteht.
Neben lachenden und weinenden Figuren offen-
baren vor allem Brustbilder, bei denen es sich gleich-
zeitig um Selbstdarstellungen handelt, dass Tronien
als Demonstrationsstücke meisterhafter Affektdar-
stellung fungieren konnten. Nutzte em Künstler
nämlich die eigenen Gesichtszüge als Vorbild für
eine im Affekt begriffene Tronie, führte er nicht nur
die Fähigkeit vor, eine bestimmte Emotion zu verge-
genwärtigen, sondern auch die Gabe des Malers, sich
in einen beliebigen Gefühlszustand hineinzuverset-
81 Zit. nach Tümpel 1986, S. 39. Für den lat. Originaltext vgl.
Huygens / Worp 1891, S. 126. Vgl. auch Schwartz 1989, S.
96f.
82 Vgl. Raupp 1984, S. 252f.
83 Vgl. Lee 1940, S. 218; Raupp 1984, S. 142f.
84 Junius / Aldrich / Fehl 1991, S. 264f. Vgl. auch ebch, S. 296f.

zen.82 In Anlehnung an die antike Poetik waren be-
reits die Kunsttheoretiker des 16. Jahrhunderts der
Auffassung, dass ein Maler sein Publikum nur dann
zu rühren und damit zu überzeugen vermöge, wenn
er in der Lage sei, die Gemütsbewegungen seiner
Protagonisten selbst zu erleben und nachzuemp-
finden.83 Im 17. Jahrhundert erhält die Forderung
nach der entsprechenden imaginativen Begabung
des Künstlers bei Junius besonderes Gewicht. Dieser
formuliert in Anlehnung an Horaz:
»An Artificer therfore who desireth to moove the spectator with
his worke after it is finished, had need first to be mooved him-
selfe, when hee goeth about to conceive and to expresse his inten-
ded worke. A minde rightly affected and passionated is the onely
fountaine whereout there doe issue forth such violent streames
of passions, that the spectator, not being able to resist, is carried
away against his will, withersoever the force of such an Imperious
Art listeth to drive him.«84
Von den hier geäußerten Gedanken geht auch van
Hoogstraten aus, wenn er dem Künstler in einer
viel zitierten Passage seiner Inleyding rät, die eige-
nen Emotionen, die der Maler gleichsam in der Art
eines Schauspielers zum Ausdruck bringen solle, vor
dem Spiegel zu studieren.85 Voraussetzung hierfür ist
van Hoogstraten zufolge der »Poetische geest« des
Künstlers, also seine Fähigkeit zur Imagination.
Tronien wie etwa Rembrandts >Selbstbildnis< mit
Halsberge und Barett (Indianapolis, Museum of Art)
[Kat. 390, Taf. IV, 83] oder Frans van Mieris’ >Selbst-
bildnis< mit Federbarett in München (Alte Pinakothek)
[Kat. 347, Taf. XVI, 74] erscheinen wie die Vorweg-
nahme bzw. der sichtbare Ausdruck der Worte Juni-
us’ oder der Empfehlung van Hoogstratens. Beson-
ders die Grimasse, die van Mieris schneidet, erinnert
stark an die explizite Mimik eines Schauspielers. Beide
Meister zeigen durch die demonstrative Darstellung
einer durch Emotionen hervorgerufenen Bewegung
der Muskeln im eigenen Gesicht, dass sie selbst zur
(Nach-)Empfindung starker Affekte fähig sind und
diese künstlerisch vergegenwärtigen können.
Es wurde bereits dargelegt, dass eine Reihe von
Rembrandts frühen gemalten und radierten Selbstdar-
stellungen als Affektstudien und damit als Übungs-
85 Hoogstraten 1678, S. 110: »Dezelve baet zalmen ook in’t
uitbeelden van diens hartstochten, die gy voorhebt, bevinden,
voornaemlijk voor een spiegel, om tegelijk vertooner en aen-
schouwer te zijn. Maer hier is een Poetische geest van noode,
om een ieders ampt zieh wel voor te stellen.« Vgl. hierzu Kat.
Berlin / Amsterdam / London 1991/92b, Kat. Nr. 1, S. 170;
Kat. London / Den Haag 1999/2000, Kat. Nr. 20, S. 125.
 
Annotationen