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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0373

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Tronien als Demonstrationsstücke künstlerischer Kreativität

345

Gemäldepartien im Geiste des Betrachters eine äu-
ßerst illusionistische Bildwirkung resultieren kann/3
Auch für die niederländische Kunstrezeption des 17.
Jahrhunderts lässt sich zeigen, dass ein skizzenhaft-
freier Malstil als Ausweis besonders lebensechter
Vergegenwärtigung betrachtet werden konnte. In
dieser Hinsicht aufschlussreich ist z.B. eine Passage
in Theodorus Schrevelius’ Haarlemer Stadtgeschich-
te von 1648, in der er die Kunst von Frans Hals wie
folgt charakterisiert:
»Hier kan ick oock met stille swijghen niet verby gaen, Frans
ende Dirck Hals Ghebroeders, van de welcke d'eene, die deur een
onghemeyne manier van schilderen, die hem eyghen is, by nae alle
overtreft, want daer is in sijn schildery sulcke forse ende leven,
dat hy te met de natuyr selfs schijnt te braveren met sijn Penceel,
spreecken alle sijne Conterfeytsels, die hy ghemaeckt heeft, on-
ghelooflijcke veel, die soo ghecolereert zijn, dat se schijnen asem
van haer te gheven, ende te leven.«73 74
Zunächst lobt Schrevelius Hals’ spezifische Manier,
in der er die meisten anderen Künstler übertref-
fe. Den Grund hierfür sieht der Autor ganz offen-
sichtlich darin, dass Hals’ Malweise seinen Werken,
insbesondere seinen Bildnissen, so viel Kraft und
Vitalität verleihe, dass sie mit der Natur selbst zu kon-
kurrieren und zu leben scheinen. Die lebendige Wir-
kung, die Schrevelius Hals’ Porträts zuerkennt, wird
also unmittelbar zu dessen »manier van schilderen« in
Beziehung gesetzt. Noch Arnold Houbraken verwen-
det das Adjektiv »levendig«, um die Art und Weise zu
charakterisieren, in der Hals seine Bildnisse gestaltete:
»Hoe krachtig en levendig hy, door zyn penceel den
natuurlyken zweem des menschelyken wezens heeft
weten na te bootsen, getuigen de menigvuldige Pour-
tretten, die men nu noch van hem ziet.«75
Tatsächlich vermittelt der flotte Pinselduktus des
Künstlers in seinen Porträts den Eindruck beson-
derer Lebendigkeit, da die Dargestellten aussehen,
als bewegten sie sich. Die Bilder wirken häufig wie
eine Momentaufnahme, in der die Bewegung und der
augenblickliche Ausdruck des Modells ebenso fest-
gehalten sind wie eine bestimmte, vorübergehende

Lichtsituation [Kat. 208, Taf. VII, 43, Kat. 224, Kat.
226, Taf. 48]. Das Phänomen einer durch bestimm-
ten Einsatz des Pinsels erzielten Verlebendigung
der Gesichtszüge der Dargestellten lässt sich auch
in Rembrandts Bildnissen beobachten: Anhand des
Vergleichs mit der sorgfältig-präzisen Malweise der
Bildnisse Pickenoys zeigt Ernst van de Wetering auf,
wie Rembrandt ein Gesicht im Porträt durch eine
locker-flüchtige Pinselführung und das Vermeiden
scharfer Konturen zum Leben erweckt.76
Wie Gregor J. M. Weber verdeutlicht, wurde die
Bezeichnung eines Gemäldes als »lebend« und damit
seine Gleichsetzung mit dem Naturvorbild im 17.
Jahrhundert als geläufiger Lobtopos verwendet, um
den jeweiligen Rezipienten zu überzeugen und seine
Bewunderung zu erregen.77 Mit dieser Intention wur-
de der Topos unter anderem in holländischen Epi-
grammen auf Porträts eingesetzt. So heißt es etwa
in einem Gedicht des Jan Vos auf ein Selbstbildnis
Govaert Flincks: »Flink leeft door zyn penseel«.78
Allerdings waren Porträtgedichte in der Regel da-
rauf angelegt, den Dargestellten selbst und nicht den
Maler des Bildnisses zu loben/1' Um Ersterem ein be-
sonderes Kompliment zu machen, beinhalten sie da-
her statt der Lobesformel, wie oben bereits erwähnt,
auch häufig die Klage über das Unvermögen des
Malers, die Seele, den Geist oder Verstand, den Cha-
rakter oder die inneren Tugenden des Porträtierten
darzustellen.80 »Zugleich wird aber dennoch auch bei
den tadelnden Äußerungen deutlich, daß sie vor dem
Hintergrund der Forderung nach einer vollständigen
und gültigen Vergegenwärtigung des Porträtierten
gesehen werden und daß sie dem Ziel des individu-
ellen Zusammenfallens von Urbild und Abbild, von
Natur und Kunst, dienen sollen.«81 Zu einer solchen
Vergegenwärtigung gehörte nicht nur die Ähnlich-
keit von Original und Bildnis, sondern offensichtlich
auch die lebendige Wirkung der im Porträt verewig-
ten Person. Dies jedenfalls impliziert der wiederhol-
te Bezug auf den Lobtopos des hebenden Bildes<,
wenn in der Dichtung oder anderen Schriften des

73 Wie Wetering 2006a, S. 96f., zeigt, ist damit zu rechnen, 75
dass Rembrandt dieses Phänomen bei der Schöpfung seiner 76
besonders skizzenhaft oder sogar unvollendet wirkenden
Bilder bewusst ins Kalkül zog. Vgl. auch Wetering 2005b, 77
S. 303, 305. Zum »Anteil des Betrachters« bei der Rezeption 78
von Bildern vgl. bereits Gombrich 1956, S. 181-202. 79
74 Schrevelius 1648, S. 383. Vgl. auch Thiel-Stroman 1989/90, 80
Dok. 116, S. 399f., dort auch eine engl. Übersetzung des ndl. 81
Originals.

Houbraken 1753, Bd. 1, S. 92.
Wetering 1991/92, S. 24-26 (wiederholt in Wetering 1997,
S. 171f.).
Weber 1991, bes. S. 9f., 156-164, 254.
Zit. nach Weber 1991, S. 157.
Weber 1991, S. 138f.
Vgl. oben, Kap. V.2.1, S. 440.#
Weber 1991, S. 139.
 
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