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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0372

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344

Bedeutung, Funktion und Wertschätzung von Tronien


Abb. 67 Hendrick Goltzius, Brustbild eines alten Mannes mit
langem Bart auf einem Brief vom 10. Juni 1605 an Jan van Weely,
Zeichnung, Amsterdam, Rijksmuseum, Rijksprentenkabinet
[Kat. 174]

vor diesem Hintergrund einige erhaltene Briefe des
Hendrick Goltzius, die der Meister in ungewöhn-
licher Weise unterzeichnete: Die Briefe sind nicht
allein unterschrieben, vielmehr fügte der Meister am
Ende des Blattes jeweils die Zeichnung eines Kopfes
hinzu, neben oder unter den er sein Monogramm
und die Jahreszahl setzte [Kat. 173-174].66 Auf einen
1605 datierten Brief an Jan van Weely (Amsterdam,
Rijksprentenkabinet) zeichnete Goltzius z.B. das
Brustbild eines alten Mannes mit langem Bart [Kat.
174, Abb. 67], wobei es sich offensichtlich um ein
idealisiertes Phantasiebildnis handelt.67 Walter Mell-
on zufolge dienen die entsprechenden Brustbilder als
»alternative signature.«68 Der Meister signiert nicht
nur mit einer konventionellen Unterschrift, son-
dern gibt darüber hinaus »an example of his artistic
hand«69, wie Peter Parshall es formuliert, und wertet
dieses schließlich noch durch sein Monogramm auf.
Als Probe seiner Kunst wählt Goltzius bezeichnen-
derweise einen menschlichen Kopf und liefert damit
ein gleichsam komprimiertes Beispiel für seine Meis-
terschaft als Figurenmaler.
Auch in gemalten Tronien verdichtet sich die Vir-
tuosität eines Malers in der Darstellung des Kopfes
einer Figur. Wie die in Teniers’ Gemälde eingefügten
Tronien oder die Brustbilder von Goltzius fungierten
sie als pars pro toto der Kunst eines Meisters, indem
sie dessen virtuosen Malstil exemplifizierten, ohne

dabei eine vielteilig-komplexe Komposition und ein
anspruchsvolles ikonographisches Programm prä-
sentieren zu müssen.
3.2 >Lebensnähe< versus >Kunstcharakter<
Hing die Wertschätzung von Tronien zu einem we-
sentlichen Teil mit der virtuosen Demonstration der
individuellen Malweise ihrer Schöpfer zusammen,
drängt sich die Frage auf, ob und inwiefern dieser
Aspekt nach zeitgenössischer Vorstellung mit dem
für Tronien typischen Merkmal möglichst wirk-
lichkeitsnaher Darstellungsweise in Einklang stand.
Auf den ersten Blick scheint die freie Ausführung
eines Bildes in Widerspruch zur Umsetzung größt-
möglicher Naturtreue zu stehen, da Erstere durch
das Sichtbarmachen der Arbeitsspuren des Meisters ja
gerade den >Kunstcharakter< eines Werkes offenbart.
Dass sich auch die Zeitgenossen dieses Problems be-
wusst waren und die Zurschaustellung einer bestimm-
ten Manier im Kunstwerk unter Umständen kritisiert
wurde, belegt eine Passage aus Philips Angels Lof der
schilder-konsf.
»Süllen wy het soo maecken dat yder een kan sien om dat het
op sodanige maniere gemaect is, dat het van die, of die Meester
zy? neen geensins: want soo lange als dat bespeurt werdt, en te
kennen is, soo doet de Meester daer noch al van ‘tsijne te veel toe:
maer soo hy het leven so weet te volgen datmen oordeelen kan dat
het eygentlicke ‘tleven na by komt, sonder nochtans de Meesters
manieren daer in te können vinden die het ghemaect heeft; sul-
cken Gheest komt Lof en Eere toe, ende sal boven andere gesteh
werden.«70
Angel zufolge kann Lebensnähe im Gemälde nur
dann erzielt werden, wenn ein Maler die Ausprä-
gung eines individuellen Stils weitestgehend ver-
meidet.71 Doch teilten nicht alle Zeitgenossen diese
Auffassung. Wie Antje Günther darlegt, wurde eine
skizzenhafte Malweise, die das non finito einschließt,
bereits in der italienischen Kunsttheorie des 16. Jahr-
hunderts als Ausdruck besonderer Lebendigkeit (vi-
vacitd) und Natürlichkeit [naturalez za) bewertet.72
Diese Ansicht trägt dem Umstand Rechnung, dass
aus der Ergänzung von nur andeutend ausgeführten

66 Vgl. Roever 1888; Reznicek 1961, 2 Bde., Kat. Nr. 293, Abb.
397, Kat. Nr. 294, Abb. 396, Kat. Nr. 328, Abb. 398.
67 Reznicek 1961, Bd. 1, Kat. Nr. 294, S. 373.
68 Melion 1992, S. 65.
69 Parshall 2003, S. 37, Anm. 22.

70 Angel 1642, S. 53.
71 Vgl. hierzu Sluijter 1993, S. 56-60. Vgl. auch Hoogstraten
1678, S. 39; Lairesse 1740, Bd. 1, S. 324 (vgl. hierfür oben,
Kap. III.5.2, S. 243, Anm. 93).
72 Günti-ier 1999, S. 34-53.
 
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