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Hirschfelder, Dagmar
Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts — Berlin: Mann, 2008

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https://doi.org/10.11588/diglit.47555#0374

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346

Bedeutung, Funktion und Wertschätzung von Tronien

17. Jahrhunderts von der Porträtmalerei die Rede ist.
Eine freie, zum Teil nur andeutende Malweise, derer
sich innovative Künstler wie Rembrandt und Hals
bedienten, bot die Möglichkeit, den geforderten Ein-
druck der Lebendigkeit zu erzeugen.
Allerdings stand das Maß der freien Ausführung,
welches Rembrandts und Hals’ Bildnisse der späten
Schaffenszeit prägt, so wenig mit den herkömmlichen
Porträtkonventionen in Einklang, dass viele Auf-
traggeber eine entsprechende Gestaltung ihrer Bild-
nisse ablehnten. So finden sich beispielsweise in den
sechziger Jahren fast keine weiblichen Porträts mehr
im CEuvre des Frans Hals, wofür zweifellos auch
der Malstil des Meisters in dieser Zeit verantwort-
lich war.82 Bei der Produktion von Tronien hingegen
gab es keine vergleichbaren Beschränkungen, die den
Künstlern auferlegt waren: Standen die Porträtkon-
ventionen der forcierten Erzeugung des Eindrucks
von Bewegung und veränderlichen Lichtverhältnis-
sen durch das Aufbrechen der Farboberfläche und
ihre Zerlegung in einzelne Pinselstriche bis zu einem
gewissen Grad entgegen, so waren Tronien hierfür
ein ideales Medium und besaßen damit in besonderer
Weise das Potential, die Illusion von Lebendigkeit
hervorzurufen [Kat. 203, Taf. VI, 42, Kat. 217, Taf.
46, Kat. 392, Taf. V, 83].
Folgt man Schrevelius, sahen die Zeitgenossen in
dem Gedanken, dass die Wiedergabe eines Naturvor-
bildes mit sichtbarem Pinselstrich oder sogar in skiz-
zenhafter Vortragsweise ihm die Qualität besonderer
Natürlichkeit und Lebendigkeit verlieh, offenbar
nicht zwingend einen Widerspruch. Bestätigt wird
diese Annahme durch van Manders Äußerungen im
Zusammenhang mit seiner Behandlung von Tizians
rauer Manier.83 Der Autor beschreibt den Eindruck,
den Tizians grob ausgeführte Spätwerke vermitteln,
als »natuerlijck«84 - vorausgesetzt, der Betrachter ste-
he weit genug vom Bild entfernt. Damit nicht genug,
schließt van Mander - Vasari folgend - wenig später
an, dass man die entsprechenden Werke Tizians bei-
nahe für lebend halten könne:
82 Kat. Washington / London / Haarlem 1989/90, Kat. Nr.
79, S. 348.
83 Mander / Miedema 1973, Bd. 1, S. 259f. (fol. 48r-48v), Str.
23-26. Zur rauen Manier vgl. oben, Kap. III. 1.3., S. 135, Kap.
V.3.1, S. 340 m. Anm. 35.
84 Mander / Miedema 1973, Bd. 1, S. 259 (fol. 48r), Str. 23:
»Maer ten lesten met vlecken en rouw’ streken / Ginck hy
zijn wercken al anders beleyden / Welck natuerlijck wel
stondt / als men gheweken / Wat verre daer van was / maer
niet bekeken / Van by en wou wesen.«

»Want (seyt Vasari) den arbeydt daer onder
Groote Const bedeckt is / en dat soodanen
Schildery te leven men schier mocht wanen /
En als gheseyt is / dat zijn dinghen schijnen
Lichtveerdich / die doch zijn ghedaen met pijnen.«85
Gerade in der scheinbaren Mühelosigkeit der Vor-
tragsweise, die den tatsächlichen Arbeitsaufwand des
Meisters negiert, manifestiert sich nach Auffassung
van Manders eine besonders lebendige Wirkung der
Bilder. Damit einher geht die Bewertung der rauen
Manier als Zeichen höchster künstlerischer Meister-
schaft.86 Die Inanspruchnahme des Lobtopos vom
hebenden Bild< dient offenbar nicht zuletzt der Le-
gitimation des Einsatzes der künstlerischen Mittel
in einer Weise, die primär dem Willen des Künstlers
folgt und sich damit - zumindest bis zu einem gewis-
sen Grad - vom Darstellungsgegenstand als solchem
emanzipiert. Das für die Malerei des 17. Jahrhun-
derts grundsätzlich verbindliche Postulat der Natur-
nachahmung war also durchaus vereinbar mit einer
weitgehenden Verselbständigung des Farbauftrags
und der individuellen Pinselführung.
In der skizzenhaften Ausführung eines Gemäldes
oder einzelner Partien davon wurden >Lebendigkeit<
und >Künstlichkeit< gleichermaßen zur Anschauung
gebracht.87 Die illusionistische Wirkung der frei-
en Malweise war nicht zuletzt abhängig von einem
ausreichenden Abstand des Betrachters dem Bild ge-
genüber. Gemälde kleinen Formats, um die es sich
gerade bei Tronien häufig handelt, forderten jedoch
dazu auf, sie aus der Nähe anzusehen. Auf diese Wei-
se entpuppte sich die natürliche Erscheinungsweise
einer Figur als künstlich erzeugter Illusionismus und
Ergebnis der virtuosen Maltechnik des Künstlers.
Bereits im 17. Jahrhundert waren also die Voraus-
setzungen für ein Kunstverständnis geschaffen, das
den genuin künstlerischen Qualitäten eines Werkes
eine Vorrangstellung gegenüber dem Darstellungs-
gegenstand bzw. dem >Inhalt< eines Bildes einräumte.
Tronien bieten den besten Beweis dafür, dass diese
85 Mander / Miedema 1973, Bd. 1, S. 260 (fol. 48v), Str. 25
(Hervorhebung von der Verf.).
86 Mander / Miedema 1973, Bd. 1, S. 260 (fol. 48v), Str. 25:
»Maer dees maniere van doen uyt bysonder / Goet oordeel
en verstandt van Tizianen, / Is schoon en bevallijck gheacht
te wonder.« Zu van Manders Beurteilung der rauen Manier
als schwerste Malweise vgl. Mander / Miedema 1973, Bd. 2,
S. 600, Nr. XII 26c; Raupp 1984, S. 171.
87 Vgl. Günti-ier 1999, bes. S. 53, 89.
 
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