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Illustrierte Welt : vereinigt mit Buch für alle: ill. Familienzeitung — 22.1874

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Heft 5
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https://doi.org/10.11588/diglit.62248#0127
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Miß HlaHel.
Roman
E. v. Goslar.
(Fortsetzung.)
8ech8te8 Rajiitet.
Was treibt mich zu ihr hin?
Fr. B od enst eb t.
Es war in ziemlich früher Morgenstunde, etwa vierzehn
Tage nach der Ankunft der Familie auf dem Lande. Der
leichte Nebelduft der Frühliugsnacht lag noch zwischen den
Bäumen und Büschen des Parks. Die Thauperlen glitzerten
auf den Gräsern im Strahl der Morgensonne und ein Hauch
von Frische und Lust lag über der ganzen sonnigen Natur.
Die Schwäne im Teich schüttelten ihr glänzendes Gefieder,
tauchten die schlanken Hälse in die Flut und schwammen
majestätisch auf dem morgenfrischen Gewässer. Der auf dem
nebeligen Eiland so seltene Gast, eine Nachtigall, schmetterte
seine harmonischen Töne dem warmen Frühlingstage entgegen;
aus dem an das Wasser grenzenden Wildpark traten die Rehe
mit den sinnigen, menschlich blickenden Augen, die zahmen
Hirsche mit dem stolzen, zwölfzackigen Geweih vorsichtig heran,
um den erfrischenden Frühtrunk zu thun. Die jungfräuliche
Natur schien einsam.
Sie schien es nur, wenngleich die weiße, schlanke Mädchen-
erscheinung, die leise, sorgsam zwischen den feuchten Gräsern
hindurch ihren Weg nach dem Teich nahm, ihren Zauber nur-
erhöhte. Sie sah aus, wie die belebende Elfe des Gartens,
wie sie mit dem unnennbar schönen Angesicht, mit dem schmuck-
losen, duftig weißen Gewands langsam herantrat und in
träumerisch lauschender Stellung am Wasser stehen blieb.
Das Frühlicht tanzte auf dem glänzenden, nachtschwarzen
Haar, küßte die reine, stolze Stirn und blieb wie verwundert
an den großen Augen hängen, deren schwimmende Tiefe
nächtlich und unergründlich wie die Flut vor ihr erschien.
Sie hob die eine Hand, die andere lag in einer Binde,
horchend empor — ein seliges Lächeln verklärte ihre Züge,
als der Gesang der Nachtigall an ihr Ohr schlug. So stand
sie eine Weile, regungslos. Die Thiere sahen ihr zu — kein
einziges erschrak vor ihr. Ihr Instinkt läßt sie die Un-
schuld nicht fürchten. Als sie mit einer plötzlichen Bewegung
scheu in's Dickicht zurückflohen, hatte das einen andern Grund.
Dicht neben den Rehen, der Stelle gegenüber, wo das Mäd-
chen stand, erschien ein Mann. Sein Auge war schwarz wie
sein Haar und ein unheimliches Leuchten glühte in demselben
auf, als er die Erscheinung am jenseitigen Ufer gewahrte.
Mit leisem, an die Bewegung der Schlangen erinnerndem
Tritt suchte er dann vorsichtig einen Pfad durch die den Teich
umgebenden Büsche, in solcher Weise, daß er sich selbst
verbarg, das junge Mädchen jedoch nicht aus dem Auge
verlor.
Dieses hatte inzwischen, durch irgend ein Geräusch gestört,
seine Stellung und seinen Ausdruck verändert. Der Arm
war herabgesunken, das süße Lächeln wich einem unsäglich
traurigen Ausdruck, und das Antlitz wendend blickte sie wie
suchend umher. Unter einer Hängeweide in ihrer Nähe war
eine Ruhebank angebracht, nach dem Wasser hin frei, doch
Jllustr. Welt. XXII. 5.

dem Garten zu mit dichtem Grün gedeckt. Darauf ging sie
zu und sank, wie müde, darauf nieder. Sie schien kaum
dasselbe Wesen mehr, das vor wenigen Minuten so ätherisch
verklärt sich genähert. Tiefe Schwermuth umschattete mit
ihren schwarzen Flügeln die noch kaum in süßem Vergessen


so klare Stirn und die dunkle Wimper verhüllte wieder das
Märchenauge, aus dem noch eben eine Welt voll Wunden:
strahlte.
Woran dachte sie wohl? Ferne, weit, weit ab lagen ihre
Gedanken gewiß, denn sie fuhr wie aus einem tiefen Traum

Ein Kirgisenzelt. Originalzeichnung von F. Kollarz. (S. 150.)


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