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Illustrierte Welt : vereinigt mit Buch für alle: ill. Familienzeitung — 22.1874

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Heft 19
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https://doi.org/10.11588/diglit.62248#0517
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19. clzelt. ^-4'A Ktllttgllrt, Ueipttig UNtl ^jeil.

Me§el vom Km5tl)ttler.
Erzählung aus dem Niesen-
gebirge
von
E. Westhoff.
u den wenigen Ge-
^ff^birgen, die seltener
^^^ von Reisenden auf-
gesucht werden, ge-
hört auch das schlesische Rie-
sengebirae; es hat schroffe,
steile Felsen, liebliche Thäler,
groteske wilde Schluchten, zer-
rissenes Gestein und üppige,
dunkelgrünende Tannenwäl-
der, die von silberklaren,
rauschenden Bergflüßchen
durchschnitten werden. Ent-
zückende Fernsichten bieten
sich dem überraschten Auge,
anmuthige Fußpfade in viel-
fachen Windungen laden den
Wanderer ein, ihnen zu fol-
gen; überall wirkt die Ma-
jestät einergroßartigenNatur.
Aber der Engländer, der
Tourist pur oxeollonee, geht,
wenn er den Kontinent be-
sucht, meist nach dem Rhein,
und glaubt, wenn er die
lieblichen Ufer desselben ge-
sehen hat, Alles genossen zu
haben, was unser nördli-
ches deutsches Vaterland an
Naturschönheiten zu bieten
hat; so sind es denn größten-
teils nur Schlesier selbst,
die Sommerausflüge in ihr
heimatliches, herrliches Ge-
birge machen. Allerdings ist
das.Riesengebirge reich an
Mineralquellen, und eine
Menge Badeorte gewähren
den Leidenden einen ange-
nehmen Aufenthalt, herrliche
Luft und in den meisten
Fällen auch Erleichterung,
wenn nicht Heilung ihrer
Leiden. Aber die Baderei-
senden des Riesengebirges
sind wirklich krank und unter-
nehmen selten genug einen
weiteren Ausflug, sie sind
froh, wenn ihre Kräfte aus-
reichen, die nahen und be-
quemen Promenaden aufzu-
suchen.
Hauptsächlich ist es nun
SNunr. W-lt. XXII. IS.


Eine Kalabreserin. (S. 542.)
Gemälde von W. I. Martens. Nach einer Photographie im Verlag der Photogr. Gesellschaft in Berlin.

die Grafschaft Glatz selbst,
die der interessanten lohnen-
den Partieen viele bietet.
Besonders eigentümlich ist
die Heuscheuer, ein hoher, ab-
geplatteter Felsenberg, der
sich gegen dreitausend Fuß
hoch erhebt und die seltsam-
sten Formationen zeigt. Tiefe
Abgründe, unabsehbare
Schluchten, Felsenspaltenma-
chen es dem Fremden ganz
unmöglich, ohne Führer den
verschlungenen Pfad zu fin-
den, der auf die Höhe führt,
wo eine allerliebste Meierei,
im Schweizerstyl erbaut, dem
Reisenden gastliche Aufnahme
und Erquickung bietet.
Vor diesem einladenden
freundlichen Schweizerhäus-
chen der Heuscheuer, an die
halboffene Hausthür gelehnt,
von der untergehenden Sonne
bestrahlt, stand ein schlankes,
dunkeläugiges Mädchen in
der dort üblichen ländlichen
Tracht. Die vollen Arme
ineinandergelegt, schaute sie
sinnend in die flammenden
Gluten, welche die scheidende
Sonne über Wald und Feld
geworfen hatte und sogar den
blauen, dunklen Nebel ver-
goldete, daß er in weit ver-
schwimmender Ferne, durch-
leuchtet vom Purpur des
scheidenden Lichtes, den däm-
mernden blauen Bergen einen
letzten goldenen Schimmer um
ihre dunklen Häupter gewo-
ben hatte.
Etwa zwanzig Schritt von
dem Häuschen fiel der Felsen
jäh ab und ließ den Blick
in eine grausige Tiefe fallen,
die den Reisenden Schwindel
und Entsetzen verursachte,
der jungen Tochter des Ge-
birges aber ungekünsteltes
Entzücken bereitete. Stunden-
lang konnte das schlanke
Mädchen, an die leichte
Brüstung gelehnt, sich über
den Abgrund hinausbeugen
und nach den Wipfeln der
hohen grünenTannenschauen,
deren höchste Spitzen nur wie
aus tiefer Dämmerung her-
auf in der Tiefe sichtbar
wurden.
Die großen braunen Augen
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