Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
für sein Vaterland zu sterben bereit schien, der auf das
Piedestal politischen Märtyrertums sich zu stellen im
Begriffe war, zum Verräter an feinem Vaterlande, indem
er an die Stelle seiner besseren Ueberzeugung ein falsches
Heldentum setzte, unter dessen Flunkern und Klirren er
seiner Selbstsucht frönen konnte.
Wladimir kam das nicht in den Sinn; je mehr er die
Gefahr erkannte, die drohte, um so größer dünkte ihn der
Entschluß, ihr gegenüberzutreten. Es galt den Tod, und
er scheute ihn gewiß nicht, doch zuvor wollte er sic besitzen —
eine Woche — einen Tag, gleichviel — das sollte sein Lohn
sein! Nichts sollte den ihm rauben, kein Toter, kein
Lebendiger. „Elenor!" dröhnte es dann plötzlich in sein
Ohr — die er zur Waise gemacht — das hatte sie ihm
schon längst verziehen, sie glaubte ihn ja noch immer unter
demselben Verhängnis leidend, unter dem sie litt — aber
betrogene Liebe, Eifersucht sieht scharf, wenn in Elenor
der Gedanke auftauchen würde! — Da rauschten schon
wieder die Fittiche der Schuld über ihm. Er beugte sein
Haupt, wie um seinem Flügelschlage auszuweichen.
„Sie muß alles wissen," rang eS sich plötzlich in ihm
empor, „alles! Meine Liebe zu Marciana, meine geheim-
sten Gedanken, ich muß sie selbst vor den Abgrund führen,
vor dem ich stehe, sieht sie ihn nicht, öffnet sich ihr nicht
sein höllischer Schlund — dann weiß ich es gewiß, es ist
ein Phantom — dann überschreite ich ihn und lache meiner
Einbildung. Sie wird furchtbar leiden, das arme Kind,
aber sie ist edel und — stolz — eine Minsky — sie wird
es verwinden."
Diese Gedanken beschäftigten Wladimir auf seiner
hastigen Reise, bis er an die polnische Grenze kam, dort
wurde er jäh herausgerissen. Die Ansammlung von
Truppen, die fieberhafte Unruhe uud Aufregung auf den
Bahnhöfen ließen ihn die rasche Entwicklung der Ereig-
nisse ahnen.
Ein Entsetzen überkam ihn bei dem Gedanken, welchen
Gefahren Marciana ausgesetzt war auf ihrer Rückreise —
am Ende war sie gefangen, mißhandelt, oder im besten
Falle konnte sie die Grenze nicht überschreiten, die förm-
lich abgesperrt schien. Er selbst gab die Hoffnung auf,
auf gewöhnlichem Wege dieselbe überschreiten zu können.
Er lauschte nach jeden: Gerüchte, ohne durch Fragen sich
verdächtig zu machen.
Eine plötzliche gewaltsame Truppenaushebung in War-
schau seitens Rußlands hatte den Ausstand, der erst im
Mai beginnen sollte, jetzt schon zum Ausbruch gebracht.
Ganz Polen war in Aufruhr.
Die großartige militärische Vorbereitung rings umher
brachte ihn einen Augenblick auf den Gedanken, daß sein
ganzer Plan ein Frevel sei, ein unnützes Menschenopfer.
Sieg sei ja unmöglich, Vernunft und Pflicht gebot
ihm, seinen ganzen Einfluß auszuüben, seine Landschaft
zu beruhigen und dem allgemeinen Verderben zu entziehen.
Doch nur einen Augenblick, dann beherrschte ihn wieder
der Gedanke, wie er über die Grenze gelange und mög-
lichst rasch Gewißheit bekäme über Marcianas Los.
Au der preußisch-russischen Grenze schien ein Ueber-
tritt für ihn höchst gewagt, wenn nicht unmöglich. Er
hatte in der Eile für die nötigen Papiere nicht Sorge
getragen, die übrigens jetzt wohl auch nicht mehr berück-
sichtigt würden. So änderte er seinen Plan und fuhr nach
Krakau. An der österreichischen Grenze war ein Durch-
kommen gewiß eher möglich, auch kannte er dort polen-
freundlich gesinnte Leute, die ihm behilflich sein konnten.
Er täuschte sich nicht, ja er traf dort mehr Schicksals-
genossen, die einen Weg niit ihm verfolgten.
Sie überschritten die Grenze abends auf einem Heu-
wagen, durch das dichteste Gebüsch eines Laubwaldes
fahrend. Beim nächsten Vorwerke verwandelte sich der
Heuwagen in eine Lrierleu (Korbwagen), der sie zu einem
Edelhose brachte, und so ging es fort von Hof zu Hof,
sechsmal wurde der Wagen gewechselt.
Der Treue und Vorsicht polnischer Bauern, welche
als Fuhrleute dienten, häufig anhielten, um Hufschlag
und Geleise der Straße zu besichtigen und sich von Hügeln
aus nach etwa sichtbaren Moskowiten umzusehen, hatte er
es zu danken, daß er glücklich nach vier Tagen seiner
Ueberschreitung der Grenze in Trepan eintraf.
Es war Nachtzeit, der Weg führte durch den Kalusciner
Wald: er glaubte sogar das Rauschen einer Mühle zu
vernehmen — das ließ ihn wieder in düstere Gedanken
verfallen.
Im Dorfe herrschte sonst um diese Zeit tiefe Ruhe, jetzt
bräunte hier und dort Licht, ja in der Schmiede lohte
noch frisches Feuer und der Klang der Hämmer scholl
durch die Nacht. Thüren öffneten sich, dunkle Gestalten
bewegten sich von Hütte zu Hütte, eine drohende Unruhe
ging durch die Nacht.
Er befahl dem Kutscher noch mehr Eile: alle seine
Sinne drängten nach Hause. Alona mußte wissen, ob
Marciana zurückgekehrt, der Atem stockte ihm, wenn er
daran dachte, welche Gefahren sie lief, und fester wie je
stand sein Entschluß, wenn sie wirklich glücklich angekom-
men, offen, ohne Rückhalt um sie zu werben.
Alles war versperrt, im Dunkel ruhte der ganze Bau.
Er riß an der Glocke, er schrie Alona. Die Hunde
schlugen an und rasselten an der Kette. Endlich erschien
ein Licht.

„Alona!"
Ein leiser Aufschrei ertönte, dann polterte es eilig die
Treppe herab.
„Wladi!" klang es mit zitternder, fragender Stimme.
„Oeffne!" erwiderte er.
Alona sank vor ihm auf die Kniee und bedeckte seine
Hand mit Küssen.
„Väterchen, Wladi, bist Du's denn wirklich?"
„Ist Gräfin Marciana zurückgekehrt nach Estrup?"
fragte er atemlos, der Zärtlichkeit der Getreuen nicht
achtend.
„Die Gräfin — war sie denn fort? Woher weißt Du
denn, Väterchen?"
Er stampfte mit dem Fuße.
„Verzeihung — Wladi — ich weiß von nichts! Ich
kam die zwei Jahre nicht von Trepan — und jetzt sind
schlimme Zeiten — hast Du die Schmiede gesehen — wie
sic arbeiten — Waffen, Wladi, Sensen für die Kosyniery.
— O, weil Du nur da bist, Väterchen! Gutes, liebes
Väterchen!" *
Besorgnis, innige Liebe und Freude sprachen aus der
bebenden Stimme.
Er hörte nicht darauf.
„Wecke einen Burschen, er soll ein Pferd satteln, rasch!"
„Jetzt? — Wohin, Väterchen?"
„Kümmere Dich nicht! Rasch — ein Pferd!"
Die Alte eilte zitternd über den Hof und klopfte an
den Stallungen.
Wladimir folgte ihr in seiner Ungeduld uud trieb den
verschlafenen Knecht zur Eile.
Alona trippelte ängstlich, die Hände faltend, mit flehen-
der Geberde umher.
„Väterchen, wäre morgen früh nicht auch Zeit — es
schläft alles jetzt auf Estrup. Du bist gewiß recht müde
von der Reise — und — und — was werden die Leute
dazu sagen — wenn Dein erster Ritt mitten in der
Nacht —"
„Ihr gilt, meinst Du?" vollendete lachend der Graf.
„Sie werden dann sagen, was wahr ist, was ich morgen
schon selbst öffentlich sagen werde — daß der Graf Torkler
wegen ihr' zurückgekehrt ist. Sie werden vielleicht auch
die Kopfe zusammenstecken und die Augenbrauen hinauf-
ziehen und mit den Köpfen wackeln, und der alte Eyrill
— lebt er noch, der Alte?"
Alona nickte.
„Und Brandmann werden wieder das Märchen erzählen,
dem ich einen Schluß geben will, einen recht schauerlichen,
schönen Schluß mitten unter Kanonendonner, dem Gebrüll
der Kosyniery und Todesröcheln! Das ist dann einmal
was zum Erzählen an den langen Winterabenden, daß cs
einem kalt über den Rücken läuft."
Er sprach das letzte schon vom Pferde herab in komisch
pathetischem Tone und sprengte, hellauf lachend, in die
Finsternis hinaus.
Alona blickte ihm händeringend nach. Die böse Krank-
heit hatte ihn noch nicht verlassen in der Fremde, den
armen Wladi!
Dieser ritt, sein Pferd zur äußersten Anstrengung
nötigend, den längst gewohnten Weg nach Estrup. Schon
von weitem forschte er nach dem schwachen Lichtstrahl aus
Marcianas Zimmer, der ihm so oft sein armes Herz er-
wärmt — alles war dunkel — tot! Die Angst schnürte
ihm die Brust zusammen. Wen sollte er wecken? Brand-
mann? Eine gewisse Scheu regte sich in ihm.
„Gerade er soll mich zuerst sehen," sagte er sich dann
trotzig.
Er ritt zu den Oekonomiegebäuden und schlug mit dem
Knopf seiner Reitgerte an die Wohnungsthüre Brandmanns.
Hundegebell — ein zorniger Ausruf erscholl, dann ein krie-
gerisches „Wer da!?"
Estrup war offenbar schon in Belagerungszustand
erklärt.
„Graf Wladimir Torkler!" erwiderte er, im stillen
vor sich hinlachend, welche Wirkung wohl die Nennung
dieses Namens auf den Alten da drinnen haben mußte.
Tie Thüre wurde aufgesperrt, Brandmann stand vor
ihm. Er fuhr zurück — der lange weiße Schnurrbart,
die hohe breite Gestalt im Flackerlicht einer Kerze — er
hatte noch nie bemerkt, daß der Förster dem alten Minsky
so glich, und jetzt war es ihm, als stünde er wirklich vor
ihm. Ein eisiges Gefühl ging ihm den Rücken hinab.
„Sie hier, Graf? Das bedeutet besondere Neuig-
keit," sagte Brandmann.
„Die möchte ich von Euch hören. — Ist die Gräfin
schon zurück von ihrer Reise?" fragte Wladimir.
Brandmann hob die Kerze höher, wie um sein Antlitz
zu sehen.
„Gestern abend ist sie gekommen."
„Gesund?" fragte hochaufatmend Wladimir, der seine
Freuve nicht verbergen konnte. „Ohne Abenteuer?"^
„Ich denke! Sie wissen wohl mehr als ich, Herr-
Gras. Ich bin kein Vertrauter oben im Schloß. Seit
wann zurück, wenn ich fragen darf?"
„Eben angekommen."
„Eben — und schon hier? Hm! Sie wollen wohl
auch Naczelnik (Anführer) werden? Höchste Zeit! Der
Tanz hat schon angefangen! In Serok und Piotrkow
ist schon Blut geflossen. Die ganze Bevölkerung unseres

Bezirkes ist in Auffuhr. Sie fürchten die russischen Aus-
hebungen und bedürfen nur eines Führers. — Wenn der
alte Graf noch lebte!"
„Ich hoffe ihn zu ersetzen, Brandmann," entgegnete
gereizt Wladimir.
„Nicht mehr als billig."
Brandmann lachte.
„Wie meinst Du das?" fragte mißtrauisch Wladimir.
„Nun — ich meine — weil Sie den Platz geleert,
müssen Sie ihn auch wieder ausfüllen."
„Welchen Platz?"
„Graf Minskys Platz."
„Als Naczelnik meinst Du wohl?" fragte Wladimir.
„Als was sonst?" erwiderte lauernd Brandmann.
Wladimir ärgerte sich über seine Frage. Das zwei-
deutige Wesen Brandmanns ließ ihn erkennen, daß in der
Brust dieses Mannes der Verdacht gegen ihn noch immer-
rege sei. Sollte er nicht einmal offen mit ihm sprechen,
vielleicht hatte er die wahnsinnigen letzten Worte des
Grafen gehört, dann mußte er am Ende an ein Verbrechen
glauben. Doch er wagte cs nicht, er fürchtete das Urteil
des Alten.
„Ich bin ermüdet, führe mich auf ein Zimmer. Ich
habe der Gräfin in aller Frühe eine wichtige Botschaft zu
überbringen," sagte er.
Brandmann gehorchte, nachdem er das Pferd versorgt
hatte.
„Wie geht es Elenor?" fragte Wladimir zerstreut,
als dieser mit ciuer Verbeugung das Zimmer verlassen
wollte.
„Sie ist alt geworden seit jenem Unglückstage, das
arme Fräulein." Er senkte die Augen und machte sich
an dem Lichte zu schaffen. „Sie träumt so viel vom
seligen Grafen, sagt sie, und das sei so schrecklich, das
blutige Antlitz. Man sagte ihr, das bedeute, daß er keine
Ruhe habe im Grabe, uud der Gedanke, glaube ich, macht
sie alt. Sie läßt Messen lesen, das ganze Dorf betet für
ihn —"
„Und das hilft Wohl alles nicht?" erwiderte fest
Wladimir. „Was will er denn noch, der ruhelose Graf?"
Sein Auge ruhte durchbohrend auf Brandmann. Ver-
zückte mit den Achseln.
„Man muß solchen Dingen nicht nachhängen, das
könnte einen verrückt machen. Gute Nacht, Herr Graf."
Er verließ Wladimir, der ihn nicht mehr zurückhielt.
„Was kann er denn noch wollen? — Messen! — Ge-
bete! Und noch keine Ruhe?"
Er sprach das spöttisch vor sich hin.
„Ich wußte es wohl — ich laS es in seinem sterben-
den Blick — Rache! — Mein Blut für seines! — Das
wär's! — Die Herren Kosaken werden ihm vielleicht bald
dazu verhelfen — zu seiner Ruhe!"
Er hatte einen unruhigen Schlaf. Die Träume Elenors
quälten auch ihn. Als er, in Schweiß gebadet, erwachte,
stand ein fester Entschluß auf seiner Stirne.
Marciana war erst die Nacht zuvor auf Estrup an-
gekommen und zwar auf dieselbe Weise wie Wladimir:
sie mußte sich sogar dazu bequemen, in Männerkleidern als
neu angeworbener Diener eines in der Nähe der galizischen
Grenze begüterten Polen die Grenze zu überschreiten.
Die ständige hochgradige Aufregung erhielt sie aufrecht,
jetzt, zu Hause angelangt, zeigten sich erst die Folgen der
ertragenen Beschwerden: sie war nicht im stände, sich aus
dem Bette zu erheben, so schwach fühlte sie sich.
Elenor, die wirklich sehr gealtert schien, saß an ihrem
Bett, bewachtere sie mit inniger Verwunderung und lauschte
atemlos der leisen Erzählung ihrer Erlebnisse.
Als sie von der Begeisterung erzählte, mit welcher sie
von ihren Landsleuten ausgenommen wurde, daß es ihr
gelungen sei, viele edle junge Männer zur Rückkehr und
Anteilnahme an dem Aufstande zu bewegen, da fragte
Elenor errötend, ob sie denn keine Kunde von Wladimir
vernommen, und als Marciana eine ausweichende Ant-
wort gab, gestand sie mit nassen Augen, daß sie insgeheim
auf seine Rückkehr hoffe, sie könne nicht glauben, daß ihm
das Schicksal seines Vaterlandes so gleichgiltig sei. Mar-
ciana wurde darauf auffallend schweigsam.
Da trat ein Diener ein und meldete ahnungslos in
seiner trockenen Weise. „Graf Wladimir von Torkler, der
seine Aufwartung machen will."
Die Wirkung dieser Meldung war eine sehr verschiedene
auf die beiden Damen.
Marciana erklärte, sie fühle sich kräftig genug, aufzu-
stehen, um ihn zu empfangen, eine verräterische Aufregung
bemächtigte sich ihrer, die jede Schwäche verwischte, wäh-
rend Elenor unter Hellen Thränen — der Freude wohl —
auf einen Stuhl sank und wie gelähmt schien von der
plötzlich mit ihrem geheimen, sehnsuchtsvollen Gedanken so
wunderbar zusammentreffenden Ankunft des so lange be-
weinten Geliebten.
Marciana sollte ihn zuerst allein empfangen.
„Aber nicht wahr, Du rufest mich bald," bat sie Mar-
ciaua zärtlich, als sie das Zimmer verließ. „Daß ich
Dir's nur sage," flüsterte sie der nervös Eilenden in das
Ohr, „ich habe nicht recht gehandelt an Wladimir, darum
findet auch der Vater keine Ruhe, ich hätte ihm entgegen-
kommen müssen. Ich will eS wieder gut machen — sprich
ihm davon, wenn Du Zeit findest."
 
Annotationen