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Zllustrirte Melt





Das Publikum ist natürlich entzückt über das Erscheinen des hübschen
Knirpses in der Manege, sogar herzlose Kavallerieoffiziere putzen sich
gerührt die Nase, und zugleich taucht zwischen den Bänken des ersten
Platzes ein in ein Kotzentuch vermummtes, geheimnisvolles Frauen-
zimmer auf, welches in einem Korbe Orangen und Bonbondüten
feilbietet, die gierig gekauft werden, um sie dem reizenden „kleinen
Dick" zuzuwerfen. Niemand ahnt, daß unter dem Kotzentuche die schöne
„Sylphide", Adele Godefroy, steckt, die Gattin Mr. Parishs und die
Mutter des littls viele. Und niemand ahnt, daß dieselben Orangen
allabendlich wieder verkauft werden und allabendlich geworfen werden

> Diesen reizenden, rauschenden,
glühenden, blühenden Manege-
walzer von Jean Klinisch spielt
das Orchester des Zirkus — wir
wollen ihn Zirkus Antoine nennen
— zu Ehren jenes aller graziöse-
sten und kecksten Monsieur Antoine,
diesem von Göttern und Göttinnen
geliebten Ganymed und Stern des Zir-
kus Guillaume, der im Anfänge dieses
i Jahrhunderts alle Köpfe verrückte und
i noch späterhin in Papa Holteis unver-
gleichlichen „Vagabunden" verewigt wurde.
Das Orchester feines jener Orchester voll
prickelnder Verve und voll falscher Töne, voll
zweifelhafter Instrumente und böhmischer Musi-
kanten, die mit dem ersten Kunstreiter entstanden zu
fein scheinen) spielt den Walzer und auf einem sanften,
klobigen Schecken macht Mr. Will -Parish feine Evolu-
tionen auf ungesatteltem Pferde, das heißt er arbeitet eben die
zweite Nummer des heutigen Programms ab: „2. Noch nicht da-
gewefene Evolutionen des weltberühmten amerikanischen bare-
dnek-rickers Mr. Will Parish auf ungesatteltem Pferde! Dar-
nach ikarische Spiele des Mr. Will Parish mit feinem fechs-
jährigen Sohne littls viele ebenfalls auf ungesatteltem Pferde.
Zum Schluß wird Mr. Parish den kleinen Dick dreimal in die
Luft werfen und im Karriere auffangen. — In Europa noch
nie gesehen!"
Mr. Will Parish, eine prächtige, blendende Erscheinung mit
wilden Nabenlocken, schlank, geschmeidig wie eine Schlange, aus-
dauernd und „unzerbrechlich" wie eine Kautschukfigur, ist schon
bei feinem Erscheinen auf dem berühmten Schecken mit Jubel
empfangen worden, denn er ist der „Star" der Gefellfchaft, das
Idol aller Damen des Lcndstädtchens, fowie der „Scheck" das
Entzücken aller Hausherrnsöhne bildet, die sich auf Sporismen
und Pserdekenner hinausfpielen. Wie der Scheck drüber lachen
muß, wenn Schecken überhaupt lachen können; denn das gute
Tier ist eigentlich ein ausrangirter Manöver-
fchimmel, den der Schwiegervater des dum-
men Aujust, das alte Manegefaktotum Purz-
bichel, allabendlich vor der Vorstellung
mittelsteines Topfes wohlpräparirter „Zigeu-
nerfarbe" (fo genannt, weil das Rezept bester
Pferdefchminke stets von Zigeunern bezogen
i wird) künstlich zum Schecken adjustirt wird.
Und jetzt geht's an! Und während Mr.
Parish sich auf dem breiten, bequemen Rücken
Les Schecken dreht, wendet, schwingt und
evolutionirt, hält er folgenden Monolog, fo
ruhig, als stände er auf ebenem Boden und
spiele den Hamlet: „Na, alter Tatfchkerl,
thu dich nur nicht gar fo anstrengen! Ich
! glaube gar, das Vieh ist eingeschlafen? Es
' muß mondsüchtig fein, und ich werde
i ihm nächstens eine Guirlande von Paprika
's an den Schweif binden müssen, damit er
, Leben kriegt! Schön! Da fliegen mir wieder
1 Sägspäne in die Nase — wenn ich meßen
muß wie 's letztemal, kündige ich meinen
Kontrakt. Nimm dir ein Beispiel an Renz
seinem Kautschukmakadam, alter Geizkragen
von einem Antoine! Na, heute sind aber die"
Leute wieder applaudirsüchtig. — Thut euch
denn gar nicht leid um eure Handschuhe?
Wenn diese Leute nur wüßten, wie leicht das
ist, was ich ihnen da vormache. So, jetzt
kommt das Hauptstück: der Sprung aufs
Pferd, während es galoppirt. So, jetzt hat's
mir zum erstenmal verjagt! So, und jetzt
zum zweitenmal! O ihr naiven Philister,
glaubt ihr denn, ich könnte nicht schon längst
droben sein, wenn ich wollte? Aber dann
würdet ihr gleich merken, wie leicht die
Sache ist. Verkaufen muß man euch seine
Kunst. Eins, zwei! So, jetzt bin ich droben
und geberde mich, als hätt' ich weiß der
Himmel was geleistet, und ihr rast wie die
Narren. Danke, danke! So', jetzt kommt
mein kleiner Balg an die Reihe. Nur heran,
littls viele, — schöne Verbeugung gemacht
— und herauf zu mir auf den Zelter!"

— schon feit vier Wochen. Tenn der littio viele darf beileibe keine
davon naschen, sondern er darf sie nur „selig lächelnd" zusammen-
klauben aus den Sägspänen und muß sic hinter dem Manege-
vorhang wieder an Papa und Mama abliefern; es ist das eben ein
„Ncbengefchüft" aller Zirkuseltern, die in „Wunderkindern" machen.
Einen Gulden, oder Mark, oder Franken, oder Schilling hat der
ganze Orangen- und Bonbonsplunder gekostet und zehn Gulden,
oder Mark, oder Franken, oder Schillinge muß er eintragen.
Und da Mr. Will Parish und die Sylphide, Madame Adele,
über nicht weniger als fünf Wunderkinder verfügen — das kleinste
hat vor einem halben Jahre zu „laufen" angefangen und tanzt
schon die Madrilenna in der Pantomime „Karneval auf deni
Eise" — so gibt dieser Südfrüchtenhandel eine ganz nette Rente.
Tie „ikarischen Spiele" zwischen Vater und Sohn nehmen
einen sehr angenehmen Verlauf, bis auf einige derbe Kneip-

Mem Pferdchen greis' aus auf geebneter Balm,
Ohne Zagen und Straucheln, frisch drauf und frisch dran!
Ueber Hürden und Balten in fröhlicher Lust,
Ohne Furcht vor dem Falle in der tollkühnen Brust.
Mein Pferdchen tanz leicht in dem lustigen Kreis.
Laut knallet die Peitsche, dem Rößlein wird heiß —
Mit fliegender Mähne Lurchsaust es Len Raum,
Ohne Sattel und Bügel, ohne Decke und Zaum!
Schöne Frauen liebend schanen,
Senden süße Billetdoux,
Spenden Blumen, heischen Grüße,
Jedes Herze fliegt uns zu.
Wenn der Beifall rings erschallet,
Daß der Zirkus widerhallct.
Das berauscht wie süßer Wein. —
Sagt, kann man wahrer glücklich sein?'

Ke, lWplk!
Bilder aus dem Zirkusleben.
Aus dem Pferde leicht zu schweben.
Welch ein herrlich frohes Leben!
An dem Boden stets zu kleben,
Kann's wohl etwas Dümm'res geben?
Wie ein Falter in den Lüsten
Sich zn schaukeln in den Düften,
Das ist wahre Reiterlust,
Als wüchsen Flügel der freien Brust!
 
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