592
nicht, wie viele Verwundete wir noch bekommen werden,
und gerade dadurch, daß ich Ihnen diesen Offizier über-
weise, kann ich dann Ihr Zimmer vor weiteren Ueber-
süllungen frei halten."
Mathilde war zu der Bahre hcrangctreten, welche die
Krankenträger auf den Wink des Doktors emporhobcn.
Unmutig, aber doch voll mitleidiger Teilnahme warf
sie einen Blick auf das bleiche Gesicht des Verwundeten.
Mit einem schmerzlichen Schreckensruf beugte sie sich
über die Bahre.
„Friedrich," rief sie, „o mein Gott, Friedrich! Er an
Axels Seite! Hält der Tod denn so unerbittlich Ernte
unter allen, die meinem Leben nahe standen, als eS noch
Reiz und Hoffnung hatte! Und doch danke ich Gott, daß
er cs so gefügt hat, daß er es in meine Hand legt, auch
dies Leben vielleicht dem Tode zu entreißen! O, er wird
mich nicht mehr hassen, nicht mehr verachten dürfen, wenn
ich ihn dem Leben und dem Glück erhalten habe. Aber
auch sie ist hier," sprach sie leise, hinter der Bahre die
Treppe hinaufsteigend, „auch sie ist hier, die er liebt —
ist das nicht auch eine Fügung des Himmels, wäre es
nicht ihr Recht, ihm Hilfe zu leisten? Will ich ihn denn
für mich retten," sagte sie, indem flammende Rote in
ihrem Gesicht aufschlug, während sie den einsamen Korri-
dor durchschritten; „o, ich weiß es, wohl hat er es geglaubt,
daß ich aus schnödem, niedrigem Eigennutz seines VaterS
Pläne unterstützte, daß ich ihn für mich gewinnen wollte
durch unwürdige List, darum hat er mich gehaßt, darum
mich verachtet. Nun, ich will meine ganze Kraft daran
setzen, ihn dem Leben wieder zu gewinnen, und daun will
ich ihn zu ihr führen, die er liebt und die," fügte sie bitter
hinzu, „vielleicht mehr als ich an den Erben von Hagen-
berg gedacht hatte, der er nun nicht mehr ist. Ich will
seine Hand in die ihre legen, nachdem ich meine Pflicht
gegen den jungen Freund erfüllt habe, dann wird er nicht
mehr niedrig und schlecht von mir denken, dann wird er
mich nicht mehr hassen, nicht mehr verachten dürfen."
Hoch erhob sie ihr Haupt, stolz leuchteten ihre Blicke,
aber dennoch zuckten ihre Lippen in wehmütiger, schmerz-
licher Bitterkeit.
Friedrich wurde seiner nassen Uniform entledigt und
auf das bcreitstehende Lager gebettet.
Axel hatte sich nur einen Augenblick aus seinem Halb-
schlummer aufgerichtet, aber in seiner apathischen Schwäche
dem Vorgänge keine Aufmerksamkeit geschenkt.
Mathilde ließ einen Wandschirm zwischen die beiden
Lagerstätten aufstellen, damit die beiden Verwundeten sich
nicht stören möchten. Noch mehr aber fürchtete sic, daß
sie sich erkennen würden, bevor ihr Geist und ihre Körper
kräftig genug wären, ein solches Wiedersehen zu ertragen.
Dann kam der Arzt, Friedrich zu untersuchen.
Eine Kugel hatte von der Stirn bis zum Hinterkopf
die Kopfhaut fortgcrissen und eine furchtbar und erschreckend
erscheinende Wunde gemacht.
„Es ist nichts," sagte der Doktor, nachdem er genau
untersucht hatte; „die Wunde da hat keine Gefahr; wohl
mag das Gehirn stark erschüttert sein, da der Kranke noch
bewußtlos ist, wir müssen auf starkes Fieber, vielleicht auf
etwas Delirium gefaßt sein, aber, so Gott will, wird eS
nicht schlimm sein — vielleicht wird dieser junge Herr noch
schneller hergestellt werden, als Ihr Bruder. Ruhe und
immer wieder Ruhe ist die einzige Vorschrift, die ich Zhnen
geben kann — ich werde einen kühlen Trank senden, damit
das Fieber nicht zu stark wird."
Mathilde erfüllte sorgfältig dcS Arztes Vorschriften
nnd ihre Pflege wurde ihr nicht zu schwer; denn Axel war
freundlich gestimmt und fügsam und drückte nur von Zeit
zu Zeit mit freundlichen Blicken und einem leise geflüsterten
Dankeswort die Hand seiner Schwester, um dann bald
wieder in seine Betäubung zurückzusinken, welche aber, wie
die ruhigeren, kräftigeren Atemzüge bewiesen, sich immer
mehr zu einem gesunden stärkenden Schlaf entwickelte, der
die Bedingung eines Wiederauflebens der Kräfte gab und
dem Arzt immer zuversichtlichere Hoffnung cinflößte.
Bei Friedrich hatten sich zwar heftige FiebcranfLlle
eingestellt; er öffnete zuweilen die Augen und sah starr
umher, aber seine Augen hatten keinen Blick. Man sah
es wohl, daß er nichts von seiner Umgebung wahrnahm;
auch bewegten sich seine brennenden Lippen fast unaufhör-
lich in hastig geflüsterten Worten, aber diese Worte waren
so leise und so abgebrochen, daß sie fast völlig unverständ-
lich blieben und nur hin und wieder hatte Mathilde ge-
glaubt, ihren eigenen Namen zu verstehen.
Leise, mit klopfendem Herzen hatte sie sich dann wohl
vorgebeugt, um zu hören, ob nicht ein Wort der Liebe
ober ein Wort des Unwillens sie treffe, aber alles hatte
sich in jenes unverständliche durcheinanderschwirrcndc Ge-
flüster aufgelöst, wie man es so häufig von den Lippen
der schwer Fieberkranken hört.
Sie hatte also nichts weiter zu thun, als die Kranken
zu überwachen, ihnen die verschiedenen Arzneien einzu-
flößen und alle Zufälle auf das genaueste zu beobachten,
um dem Arzt ihren Bericht erstatten zn können.
Sic hatte ihrer Mutter von der wunderbaren Fügung
Kenntnis gegeben, welche Axel und Friedrich, beide ver-
wundet und ohne daß einer von dem andern wußte, in
einem Zimmer vereinigte.
Die Gräfin hatte sie prüfend und durchdringend an-
Illustrirte Welt.
gesehen und sie hatte, flüchtig errötend, vor dem Blick
ihrer Mutter die Augen niedergeschlagen. Ein Wort
hatte die Gräfin dabei nicht gesprochen, nur als sie wieder
allein mit Agnes war, blickte sie lange sinnend in das
bleiche Gesicht der schlummernden Kranken und sagte:
„Dies alles ist zu wunderbar, um an einen Zufall zn
glauben. Ist es die Hand einer dämonischen Macht, die
alle diese Menschenschicksale hier vereinigt, um sich des
gebrochenen Glückes und der leidenden Herzen zu erfreuen,
oder ist es die gütige Vorsehung, welche alles zu freund-
lichem Ende führen wird?"
Mit erneutem Eifer setzte sie Tag und Nacht ihre
ganze Kraft daran, Agnes dem Banne zu entreißen, in
dem sie gefangen war, eS mußte ja gelingen, das finstere
Rachewerk der unseligen Frau zu zerstören, an welche sie
sich nicht mehr bittend wenden wollte, aber immer wollte
der Erfolg ihre Mühe nicht belohnen, trotz aller angewcn-
deten Mittel, trotz alles freundlichen und ernsten Zuspruchs
wurde Agnes von Tag zu Tag schwächer, wie ein langsam
verlöschendes Licht.
Der Arzt, den — abgesehen von den augewendeten
menschlichen Mitteln — der eigentümliche Fall wissenschaft-
lich interessirte, bot alles auf, um die Krankheit zu wenden,
aber immer vergebens, nnd das einzig übrig bleibende
Mittel, der Kranken Axel selbst zu zeigen, konnte immer
noch nicht angewendet werden, da dessen Heilung zu lang-
sam fortschritt, als daß sein Anblick der Kranken hätte die
Gewißheit seiner Wiederherstellung einflößcn können. Eine
so heftige Aufregung ohne die unbedingte Sicherheit des
Erfolgs wollte aber der Arzt nicht wagen.
(Schluß folgt.)
Köllig Lmilbert !. voll Italien.
(Porträt S. SM.)
Tie Berliner Reife des Königs Humbert und die begleiten-
den Umstände derselben haben ihr eine ernste politische Bedeutung
verliehen. Die Romfahrt Kaiser Wilhelms II- und der so schnell
erfolgte Gegenbesuch des Königs von Italien brachte es in offen-
kundigster Weife zum Ausdruck, welch herzliches und enges Bünd-
nis zwischen den Herrscherhäusern und Völkern Deutschlands und
Italiens besteht. Der große Teil unserer Leser, denen es nicht
vergönnt war, dem Einzug König Humberts beizuwohncn und
die glänzenden Berliner Festtage des 2l. bis 25. Mai mit-
zuleben , wird es uns danken, wenn wir ihm den treuen Ver-
bündeten Deutschlands wenigstens im Bilde vorführen.
König Humbert (Umberto), der am 14. März 1844 geboren
wurde, ist der älteste Sohn Viktor Emanuels ll., aus der Ehe
mit der Tochter des Erzherzogs Rainer von Oesterreich. Er
beteiligte sich als junger Mann schon mit der ganzen Energie
seines Wesens an den Einheitsbestrebungen und nahm als
Lieutenant 1859 an dem Feldzug gegen Oesterreich teil, komman-
dirte auch später, 1866, eine Division, und übernahm dann, 1870,
das Kommando der Division in Rom. Im Gegensatz zu seinem
Vater, der sehr sranzosenfreundlich gesinnt war, strebte er eine
Allianz Italiens mit Deutschland an und machte schon 1872 einen
Besuch in Berlin, wo er mit offenen Armen ausgenommen wurde.
Am 9. Januar 1878 bestieg er den italienischen Thron, leistete
am 19. Januar den Verfassungseid, erließ eine umfassende
Amnestie und eröffnete am 7. Mürz das Parlament. Seine
ernste Natur hat anfangs etwas Befremdendes, wirkt aber nur
um so segelnder, wenn man diesem festen Charakter, dem das
Herz auf dem rechten Fleck sitzt, näher tritt, und seine edle
Gemahlin — Margarete, die Tochter des Herzogs von Genua,
geboren am 20. November 1851 — die ihm treu zur Seite steht
und durch die Anmut ihres Wesens nicht nur die aristokratischen
Kreise der Hauptstädte entzückt, sondern auch die Herzen des
Volkes gewonnen, bildet eine glückliche Ergänzung für seinen
Lebensernst, dem so selten ein Lächeln abzugewinnen ist.
All ilen Mm iler Name.
(Bild S. 594.)
Unser Bild führt uns nach Nogent-sur-Marne, einer der an-
mutigsten Sommerfrischen der Pariser Umgegend. Vom Bastillen-
platz aus erreicht man mit der Eisenbahn das kleine Städtchen
in kaum einer halben Stunde. Es liegt am nordöstlichen Saum
des von der Arbeiterbevölkerung vieibesuchten, prächtigen Bois
de Vincennes, und nicht weit entfernt von jenem Champigny,
das die Württemberger im November 1870 gegen die Pariser
Ausfallstruppcn jo brav verteidigten.
Nogent ist an Villen sehr reich, und an seinem Ufer entlang
reiht sich Restaurant an Restaurant; vor einem derselben sitzt
unsere recht buntscheckige Gesellschaft, der es sogar nicht an einer
jener musikalischen Familien fehlt, welche die Höfe der Pariser
Häuser unsicher machen, an dem obligaten Harfner und der
italienischen Mignon mit dem Tambourin nämlich.
Zwei der Canotiers sind offenbar ihres Handwerks müde,
denn der eine macht der Kellnerin den Hof, der andere blickt
mit seiner Dame — wie jemand, der sein Tagewerk vollbracht
hat und die verdiente Ruhe genießt — glcichgiltig hinab auf
die kleine Bootspartie, die sich unten cngagirt. Handelt cs sich
bei dieser wirklich nur uni Sportsinteresscn? — schwerlich! Die
Mutter freilich sitzt bereits im Boot als Tugendwächterin und
streckt sogar zärtlich warnend die Hand aus, damit das zart-
beschuhte Füßchen des Töchterleins kein unfreiwilliges Bad nehme;
aber der junge Mann, welcher der Acngstlichm so galant die
Hand reicht, denkt gewiß an ganz andere und viel liebenswür-
digere Tinge, als an den Wassersport, Ob das nicht eine kleine
Verlobung geben wird, bei der Mutter und diskreter Freund
die Zeugen abgcben? Der Maler allein kann entscheiden, ob
wir uns getäuscht haben, die Herren Maler aber antworten dem
Indiskreten, der nach ihren tiefsten Intentionen forscht, bekannt-
lich immer nur mit einem geheimnisvollen Lächeln, genau so
wie Goethe, wenn man ihn über den zweiten Teil des Faust
auszuhorchen versuchte.
Falirelllle Leute.
(Bild S. 59S.>
I.
Zwei Männer hatten einmal ihr Geld vereinigt und zogen
mit einer kleinen Menagerie, welche sie sich von demselben an-
geschasst, durch ihr Vaterland. Italiener waren es. Der eine
wurde von den Leuten Zio (Onkel) Mario genannt, der andere
hieß Ruffo. Die Menagerie bestand aus einigen Bären, Hyänen,
Schakalen, ein paar Papageien, Affen und einer Brillenschlange,
welche stets, in Baumwolle gewickelt, in einer Kiste schlief. Auch
ein paar gelehrte Pferdchen waren da, welche das Alter errieten
und multipliziren konnten. Hunde waren im Ueberfluß vorhanden;
Wachhunde, welche den Wohnungswaggon des Nachts vor Strol-
chen schützten, und Hunde, welche Künste machten. Mit den
Jahren heirateten Zio Mario und Ruffo. Der eine verliebte
sich in eine „Fran ohne Unterleib", das heißt in ein hübsches
Mädchen, welches in einem Vexirspiegelkasten saß, so daß es aus-
sah, als wachse ihr Oberleib aus einem Tische heraus; und der
andere in eine Riesendame; sie heirateten dieselben. Nach so und
so viel Monaten wurden beide Väter. Väter von Knaben. Tcr
Knabe Marios wurde Rosina getauft. Denn Zio Mario war
ein dickköpfiger Mensch, der sich ein Mädchen "eingebildet hatte,
und als cs ein Knabe war, bestand er doch darauf, ihm den
Namen zu geben, welchen er „ihr" im vorhinein schon gegeben
hatte. Als der Pfarrer Anstand nahm, einen Knaben Rosina
zu taufen, sagte Zio Mario ganz zornig: „Gut, dann soll er
gar nicht heißen!" Da mußte der gute Pfarrer nachgebcn. Der
andere Knabe ward Manfreds getauft.
Zum Glück blieb dem armen „Rosina" der Name nicht,
ebensowenig wie dem Manfrcdo. Bei den Vagabunden sind näm-
lich stets nur Spitznamen im Gebrauche. Und da Rosina ein
goldblonder, zarter Junge war, nannlen ihn die Leute bald
„Weizcnkorn", und da Manfreds ein brauner, schwarzhaariger
Bursche war, nannte man ihn zur Unterscheidung „Lebkuchen .
Die beiden wuchsen heran, wie eben Kinder herumziehender
Strolche aufzuwachsen pflegen, ohne lesen und schreiben zu lernen.
Als ganz kleine Kinder schon zeigten die beiden eine ganz
eigentümliche Rauflust gegen einander. Wenn man sie in die-
selbe Wiege legte, biß Weizcnkorn in einem Ansalle neronischer
Gelüste Lebkuchen in die Nase, und Lebkuchen biß in die Wange
Weizenkorns. Sobald sie Zähnchen kriegten, mußte man sie in
verschiedene Bettchen legen.
Ihre erste Jugend war eine Reihe gegenseitiger Faustkämpfe
und Streitigkeiten jeder Art, die sie einander übrigens nicht nach-
trugen. Nachdem sie sich windelweich und pflaumengclb geprügelt
und gezwickt hatten, plätscherten sie friedlich neben einander in
dem Teiche Les Torfes, wo sie eben Vorstellungen gaben, in
Gesellschaft der kleinen Dolorida, des Kindes der Signora Biffini,
der dicken Kassirerin des Unternehmens, welcher man nachsagte,
daß sie in den Strümpfen (welche sie eben nicht trug) lauter
Thalcr habe, die ihr an der Kasse aus Versehen hineinfielcn.
Die Geschäfte gingen nicht schlecht, denn die Bären tanzten,
die Hyänen krähten und die Hunde wachten, ganz abgesehen
davon, daß die Papageien bissen, die Affen sich kratzten und die
Schlange sich faul in ihrer Watte ringelte. Und bei solchen
„Merkwürdigkeiten" geht immer Geld ein vom armen Publikuni.
Ich für meinen Teil würde nur Entree hergeben, wenn Büren
krähen, Hyänen tanzen und Hunde in Watte schlafen würden —
das wäre doch etwas. Aber das Publikum ist eben dumm, wie
alle Leute vom „Geschäfte" wissen.
' Das Geschäft florirte demnach, und da dem Zio und dem
Ruffo damit der Hochmut kam, beschlossen sie, ihre Kinder lesen
und schreiben lernen zu lassen.
Weizenkorn und Lebkuchen sträubten sich dagegen, und wenn
man sie in eine Schule bringen wollte, legten sie sich schreiend,
mit gesträubten Haaren unter den Wohnungswagen und krochen
erst zum Abendessen hervor.
Als aber die kleine Dolorida anfing, in die Schule zu gehen,
folgten sie willig der Gespielin. Weizenkorn lernte auch wirklich
buchstabiren und schreiben, aber Lebkuchen brachte es nie üver
das Alphabet hinaus.
Das brachte einige Mißhelligkeiten zwischen dem blonden
Rosina und dem goldbraunen Manfreds, dem Weizenkorn
und dem Lebkuchen hervor, und sie lagen sich mehr als je in
den Haaren.
„Ich wette," sagte Weizcnkorn in aller Morgenfrühe zu Leb-
kuchen, „daß Du mich nicht zu Boden werfen kannst."
Lebkuchcn-Manfrcdo sagte ruhig: „O ja!" und hieb den
zarten Rosina auf die Erde, daß der Staub in die Höhe wirbelte.
Ter blonde Rosina war ein braver, sanfter Junge und lernte
bald Teller drehen, jonglircn, aus Stelzen gehen, auf dem Kopse
stehen, kurz, alle Künste, welche die Menageriepausen ausfüllten.
Er versprach ein „Künstler" zu werden, während Lebkuchen-
Manfreds nnt seinem braunen, Hitschen Gesichte und seinen schwarzen
Haaren nichts verstand, als sich mit den Bären zu wälzen.
Der alte Zio Mario war stolz aus seinen blonden Rosina
und sagte zu seiner Gattin ohne Unterleib: „Unser Sohn wird
ein Phänomen. Und ich wette, er wird einmal der Mann der
kleinen Dolorida mit den harten Thalern."
Die Gattin ohne Unterleib sagte: „Jedenfalls!"
Und der blonde Rosina-Weizenlorn rief: „Ach ja, Dolorida
muß meine Frau werden!"
Der hübsche, schwarzäugige Manfredo-Lebkuchen sagte nichts.
Aber eines Tages, als er mit Dolorida nach dem Schlüsse der
Vorstellung heimging zum Wohnungskarren, packte er sie um
die Mitte und sagte, daß sic ein schönes Mädchen sei. Sie ließ
sich küssen, lachte dann und gab ihm eine Ohrseigc. „Was unter-
stehst Tu Dich?" sagte sie.
Der goldbraune, schöne Junge schüttelte sich das schwarze
nicht, wie viele Verwundete wir noch bekommen werden,
und gerade dadurch, daß ich Ihnen diesen Offizier über-
weise, kann ich dann Ihr Zimmer vor weiteren Ueber-
süllungen frei halten."
Mathilde war zu der Bahre hcrangctreten, welche die
Krankenträger auf den Wink des Doktors emporhobcn.
Unmutig, aber doch voll mitleidiger Teilnahme warf
sie einen Blick auf das bleiche Gesicht des Verwundeten.
Mit einem schmerzlichen Schreckensruf beugte sie sich
über die Bahre.
„Friedrich," rief sie, „o mein Gott, Friedrich! Er an
Axels Seite! Hält der Tod denn so unerbittlich Ernte
unter allen, die meinem Leben nahe standen, als eS noch
Reiz und Hoffnung hatte! Und doch danke ich Gott, daß
er cs so gefügt hat, daß er es in meine Hand legt, auch
dies Leben vielleicht dem Tode zu entreißen! O, er wird
mich nicht mehr hassen, nicht mehr verachten dürfen, wenn
ich ihn dem Leben und dem Glück erhalten habe. Aber
auch sie ist hier," sprach sie leise, hinter der Bahre die
Treppe hinaufsteigend, „auch sie ist hier, die er liebt —
ist das nicht auch eine Fügung des Himmels, wäre es
nicht ihr Recht, ihm Hilfe zu leisten? Will ich ihn denn
für mich retten," sagte sie, indem flammende Rote in
ihrem Gesicht aufschlug, während sie den einsamen Korri-
dor durchschritten; „o, ich weiß es, wohl hat er es geglaubt,
daß ich aus schnödem, niedrigem Eigennutz seines VaterS
Pläne unterstützte, daß ich ihn für mich gewinnen wollte
durch unwürdige List, darum hat er mich gehaßt, darum
mich verachtet. Nun, ich will meine ganze Kraft daran
setzen, ihn dem Leben wieder zu gewinnen, und daun will
ich ihn zu ihr führen, die er liebt und die," fügte sie bitter
hinzu, „vielleicht mehr als ich an den Erben von Hagen-
berg gedacht hatte, der er nun nicht mehr ist. Ich will
seine Hand in die ihre legen, nachdem ich meine Pflicht
gegen den jungen Freund erfüllt habe, dann wird er nicht
mehr niedrig und schlecht von mir denken, dann wird er
mich nicht mehr hassen, nicht mehr verachten dürfen."
Hoch erhob sie ihr Haupt, stolz leuchteten ihre Blicke,
aber dennoch zuckten ihre Lippen in wehmütiger, schmerz-
licher Bitterkeit.
Friedrich wurde seiner nassen Uniform entledigt und
auf das bcreitstehende Lager gebettet.
Axel hatte sich nur einen Augenblick aus seinem Halb-
schlummer aufgerichtet, aber in seiner apathischen Schwäche
dem Vorgänge keine Aufmerksamkeit geschenkt.
Mathilde ließ einen Wandschirm zwischen die beiden
Lagerstätten aufstellen, damit die beiden Verwundeten sich
nicht stören möchten. Noch mehr aber fürchtete sic, daß
sie sich erkennen würden, bevor ihr Geist und ihre Körper
kräftig genug wären, ein solches Wiedersehen zu ertragen.
Dann kam der Arzt, Friedrich zu untersuchen.
Eine Kugel hatte von der Stirn bis zum Hinterkopf
die Kopfhaut fortgcrissen und eine furchtbar und erschreckend
erscheinende Wunde gemacht.
„Es ist nichts," sagte der Doktor, nachdem er genau
untersucht hatte; „die Wunde da hat keine Gefahr; wohl
mag das Gehirn stark erschüttert sein, da der Kranke noch
bewußtlos ist, wir müssen auf starkes Fieber, vielleicht auf
etwas Delirium gefaßt sein, aber, so Gott will, wird eS
nicht schlimm sein — vielleicht wird dieser junge Herr noch
schneller hergestellt werden, als Ihr Bruder. Ruhe und
immer wieder Ruhe ist die einzige Vorschrift, die ich Zhnen
geben kann — ich werde einen kühlen Trank senden, damit
das Fieber nicht zu stark wird."
Mathilde erfüllte sorgfältig dcS Arztes Vorschriften
nnd ihre Pflege wurde ihr nicht zu schwer; denn Axel war
freundlich gestimmt und fügsam und drückte nur von Zeit
zu Zeit mit freundlichen Blicken und einem leise geflüsterten
Dankeswort die Hand seiner Schwester, um dann bald
wieder in seine Betäubung zurückzusinken, welche aber, wie
die ruhigeren, kräftigeren Atemzüge bewiesen, sich immer
mehr zu einem gesunden stärkenden Schlaf entwickelte, der
die Bedingung eines Wiederauflebens der Kräfte gab und
dem Arzt immer zuversichtlichere Hoffnung cinflößte.
Bei Friedrich hatten sich zwar heftige FiebcranfLlle
eingestellt; er öffnete zuweilen die Augen und sah starr
umher, aber seine Augen hatten keinen Blick. Man sah
es wohl, daß er nichts von seiner Umgebung wahrnahm;
auch bewegten sich seine brennenden Lippen fast unaufhör-
lich in hastig geflüsterten Worten, aber diese Worte waren
so leise und so abgebrochen, daß sie fast völlig unverständ-
lich blieben und nur hin und wieder hatte Mathilde ge-
glaubt, ihren eigenen Namen zu verstehen.
Leise, mit klopfendem Herzen hatte sie sich dann wohl
vorgebeugt, um zu hören, ob nicht ein Wort der Liebe
ober ein Wort des Unwillens sie treffe, aber alles hatte
sich in jenes unverständliche durcheinanderschwirrcndc Ge-
flüster aufgelöst, wie man es so häufig von den Lippen
der schwer Fieberkranken hört.
Sie hatte also nichts weiter zu thun, als die Kranken
zu überwachen, ihnen die verschiedenen Arzneien einzu-
flößen und alle Zufälle auf das genaueste zu beobachten,
um dem Arzt ihren Bericht erstatten zn können.
Sic hatte ihrer Mutter von der wunderbaren Fügung
Kenntnis gegeben, welche Axel und Friedrich, beide ver-
wundet und ohne daß einer von dem andern wußte, in
einem Zimmer vereinigte.
Die Gräfin hatte sie prüfend und durchdringend an-
Illustrirte Welt.
gesehen und sie hatte, flüchtig errötend, vor dem Blick
ihrer Mutter die Augen niedergeschlagen. Ein Wort
hatte die Gräfin dabei nicht gesprochen, nur als sie wieder
allein mit Agnes war, blickte sie lange sinnend in das
bleiche Gesicht der schlummernden Kranken und sagte:
„Dies alles ist zu wunderbar, um an einen Zufall zn
glauben. Ist es die Hand einer dämonischen Macht, die
alle diese Menschenschicksale hier vereinigt, um sich des
gebrochenen Glückes und der leidenden Herzen zu erfreuen,
oder ist es die gütige Vorsehung, welche alles zu freund-
lichem Ende führen wird?"
Mit erneutem Eifer setzte sie Tag und Nacht ihre
ganze Kraft daran, Agnes dem Banne zu entreißen, in
dem sie gefangen war, eS mußte ja gelingen, das finstere
Rachewerk der unseligen Frau zu zerstören, an welche sie
sich nicht mehr bittend wenden wollte, aber immer wollte
der Erfolg ihre Mühe nicht belohnen, trotz aller angewcn-
deten Mittel, trotz alles freundlichen und ernsten Zuspruchs
wurde Agnes von Tag zu Tag schwächer, wie ein langsam
verlöschendes Licht.
Der Arzt, den — abgesehen von den augewendeten
menschlichen Mitteln — der eigentümliche Fall wissenschaft-
lich interessirte, bot alles auf, um die Krankheit zu wenden,
aber immer vergebens, nnd das einzig übrig bleibende
Mittel, der Kranken Axel selbst zu zeigen, konnte immer
noch nicht angewendet werden, da dessen Heilung zu lang-
sam fortschritt, als daß sein Anblick der Kranken hätte die
Gewißheit seiner Wiederherstellung einflößcn können. Eine
so heftige Aufregung ohne die unbedingte Sicherheit des
Erfolgs wollte aber der Arzt nicht wagen.
(Schluß folgt.)
Köllig Lmilbert !. voll Italien.
(Porträt S. SM.)
Tie Berliner Reife des Königs Humbert und die begleiten-
den Umstände derselben haben ihr eine ernste politische Bedeutung
verliehen. Die Romfahrt Kaiser Wilhelms II- und der so schnell
erfolgte Gegenbesuch des Königs von Italien brachte es in offen-
kundigster Weife zum Ausdruck, welch herzliches und enges Bünd-
nis zwischen den Herrscherhäusern und Völkern Deutschlands und
Italiens besteht. Der große Teil unserer Leser, denen es nicht
vergönnt war, dem Einzug König Humberts beizuwohncn und
die glänzenden Berliner Festtage des 2l. bis 25. Mai mit-
zuleben , wird es uns danken, wenn wir ihm den treuen Ver-
bündeten Deutschlands wenigstens im Bilde vorführen.
König Humbert (Umberto), der am 14. März 1844 geboren
wurde, ist der älteste Sohn Viktor Emanuels ll., aus der Ehe
mit der Tochter des Erzherzogs Rainer von Oesterreich. Er
beteiligte sich als junger Mann schon mit der ganzen Energie
seines Wesens an den Einheitsbestrebungen und nahm als
Lieutenant 1859 an dem Feldzug gegen Oesterreich teil, komman-
dirte auch später, 1866, eine Division, und übernahm dann, 1870,
das Kommando der Division in Rom. Im Gegensatz zu seinem
Vater, der sehr sranzosenfreundlich gesinnt war, strebte er eine
Allianz Italiens mit Deutschland an und machte schon 1872 einen
Besuch in Berlin, wo er mit offenen Armen ausgenommen wurde.
Am 9. Januar 1878 bestieg er den italienischen Thron, leistete
am 19. Januar den Verfassungseid, erließ eine umfassende
Amnestie und eröffnete am 7. Mürz das Parlament. Seine
ernste Natur hat anfangs etwas Befremdendes, wirkt aber nur
um so segelnder, wenn man diesem festen Charakter, dem das
Herz auf dem rechten Fleck sitzt, näher tritt, und seine edle
Gemahlin — Margarete, die Tochter des Herzogs von Genua,
geboren am 20. November 1851 — die ihm treu zur Seite steht
und durch die Anmut ihres Wesens nicht nur die aristokratischen
Kreise der Hauptstädte entzückt, sondern auch die Herzen des
Volkes gewonnen, bildet eine glückliche Ergänzung für seinen
Lebensernst, dem so selten ein Lächeln abzugewinnen ist.
All ilen Mm iler Name.
(Bild S. 594.)
Unser Bild führt uns nach Nogent-sur-Marne, einer der an-
mutigsten Sommerfrischen der Pariser Umgegend. Vom Bastillen-
platz aus erreicht man mit der Eisenbahn das kleine Städtchen
in kaum einer halben Stunde. Es liegt am nordöstlichen Saum
des von der Arbeiterbevölkerung vieibesuchten, prächtigen Bois
de Vincennes, und nicht weit entfernt von jenem Champigny,
das die Württemberger im November 1870 gegen die Pariser
Ausfallstruppcn jo brav verteidigten.
Nogent ist an Villen sehr reich, und an seinem Ufer entlang
reiht sich Restaurant an Restaurant; vor einem derselben sitzt
unsere recht buntscheckige Gesellschaft, der es sogar nicht an einer
jener musikalischen Familien fehlt, welche die Höfe der Pariser
Häuser unsicher machen, an dem obligaten Harfner und der
italienischen Mignon mit dem Tambourin nämlich.
Zwei der Canotiers sind offenbar ihres Handwerks müde,
denn der eine macht der Kellnerin den Hof, der andere blickt
mit seiner Dame — wie jemand, der sein Tagewerk vollbracht
hat und die verdiente Ruhe genießt — glcichgiltig hinab auf
die kleine Bootspartie, die sich unten cngagirt. Handelt cs sich
bei dieser wirklich nur uni Sportsinteresscn? — schwerlich! Die
Mutter freilich sitzt bereits im Boot als Tugendwächterin und
streckt sogar zärtlich warnend die Hand aus, damit das zart-
beschuhte Füßchen des Töchterleins kein unfreiwilliges Bad nehme;
aber der junge Mann, welcher der Acngstlichm so galant die
Hand reicht, denkt gewiß an ganz andere und viel liebenswür-
digere Tinge, als an den Wassersport, Ob das nicht eine kleine
Verlobung geben wird, bei der Mutter und diskreter Freund
die Zeugen abgcben? Der Maler allein kann entscheiden, ob
wir uns getäuscht haben, die Herren Maler aber antworten dem
Indiskreten, der nach ihren tiefsten Intentionen forscht, bekannt-
lich immer nur mit einem geheimnisvollen Lächeln, genau so
wie Goethe, wenn man ihn über den zweiten Teil des Faust
auszuhorchen versuchte.
Falirelllle Leute.
(Bild S. 59S.>
I.
Zwei Männer hatten einmal ihr Geld vereinigt und zogen
mit einer kleinen Menagerie, welche sie sich von demselben an-
geschasst, durch ihr Vaterland. Italiener waren es. Der eine
wurde von den Leuten Zio (Onkel) Mario genannt, der andere
hieß Ruffo. Die Menagerie bestand aus einigen Bären, Hyänen,
Schakalen, ein paar Papageien, Affen und einer Brillenschlange,
welche stets, in Baumwolle gewickelt, in einer Kiste schlief. Auch
ein paar gelehrte Pferdchen waren da, welche das Alter errieten
und multipliziren konnten. Hunde waren im Ueberfluß vorhanden;
Wachhunde, welche den Wohnungswaggon des Nachts vor Strol-
chen schützten, und Hunde, welche Künste machten. Mit den
Jahren heirateten Zio Mario und Ruffo. Der eine verliebte
sich in eine „Fran ohne Unterleib", das heißt in ein hübsches
Mädchen, welches in einem Vexirspiegelkasten saß, so daß es aus-
sah, als wachse ihr Oberleib aus einem Tische heraus; und der
andere in eine Riesendame; sie heirateten dieselben. Nach so und
so viel Monaten wurden beide Väter. Väter von Knaben. Tcr
Knabe Marios wurde Rosina getauft. Denn Zio Mario war
ein dickköpfiger Mensch, der sich ein Mädchen "eingebildet hatte,
und als cs ein Knabe war, bestand er doch darauf, ihm den
Namen zu geben, welchen er „ihr" im vorhinein schon gegeben
hatte. Als der Pfarrer Anstand nahm, einen Knaben Rosina
zu taufen, sagte Zio Mario ganz zornig: „Gut, dann soll er
gar nicht heißen!" Da mußte der gute Pfarrer nachgebcn. Der
andere Knabe ward Manfreds getauft.
Zum Glück blieb dem armen „Rosina" der Name nicht,
ebensowenig wie dem Manfrcdo. Bei den Vagabunden sind näm-
lich stets nur Spitznamen im Gebrauche. Und da Rosina ein
goldblonder, zarter Junge war, nannlen ihn die Leute bald
„Weizcnkorn", und da Manfreds ein brauner, schwarzhaariger
Bursche war, nannte man ihn zur Unterscheidung „Lebkuchen .
Die beiden wuchsen heran, wie eben Kinder herumziehender
Strolche aufzuwachsen pflegen, ohne lesen und schreiben zu lernen.
Als ganz kleine Kinder schon zeigten die beiden eine ganz
eigentümliche Rauflust gegen einander. Wenn man sie in die-
selbe Wiege legte, biß Weizcnkorn in einem Ansalle neronischer
Gelüste Lebkuchen in die Nase, und Lebkuchen biß in die Wange
Weizenkorns. Sobald sie Zähnchen kriegten, mußte man sie in
verschiedene Bettchen legen.
Ihre erste Jugend war eine Reihe gegenseitiger Faustkämpfe
und Streitigkeiten jeder Art, die sie einander übrigens nicht nach-
trugen. Nachdem sie sich windelweich und pflaumengclb geprügelt
und gezwickt hatten, plätscherten sie friedlich neben einander in
dem Teiche Les Torfes, wo sie eben Vorstellungen gaben, in
Gesellschaft der kleinen Dolorida, des Kindes der Signora Biffini,
der dicken Kassirerin des Unternehmens, welcher man nachsagte,
daß sie in den Strümpfen (welche sie eben nicht trug) lauter
Thalcr habe, die ihr an der Kasse aus Versehen hineinfielcn.
Die Geschäfte gingen nicht schlecht, denn die Bären tanzten,
die Hyänen krähten und die Hunde wachten, ganz abgesehen
davon, daß die Papageien bissen, die Affen sich kratzten und die
Schlange sich faul in ihrer Watte ringelte. Und bei solchen
„Merkwürdigkeiten" geht immer Geld ein vom armen Publikuni.
Ich für meinen Teil würde nur Entree hergeben, wenn Büren
krähen, Hyänen tanzen und Hunde in Watte schlafen würden —
das wäre doch etwas. Aber das Publikum ist eben dumm, wie
alle Leute vom „Geschäfte" wissen.
' Das Geschäft florirte demnach, und da dem Zio und dem
Ruffo damit der Hochmut kam, beschlossen sie, ihre Kinder lesen
und schreiben lernen zu lassen.
Weizenkorn und Lebkuchen sträubten sich dagegen, und wenn
man sie in eine Schule bringen wollte, legten sie sich schreiend,
mit gesträubten Haaren unter den Wohnungswagen und krochen
erst zum Abendessen hervor.
Als aber die kleine Dolorida anfing, in die Schule zu gehen,
folgten sie willig der Gespielin. Weizenkorn lernte auch wirklich
buchstabiren und schreiben, aber Lebkuchen brachte es nie üver
das Alphabet hinaus.
Das brachte einige Mißhelligkeiten zwischen dem blonden
Rosina und dem goldbraunen Manfreds, dem Weizenkorn
und dem Lebkuchen hervor, und sie lagen sich mehr als je in
den Haaren.
„Ich wette," sagte Weizcnkorn in aller Morgenfrühe zu Leb-
kuchen, „daß Du mich nicht zu Boden werfen kannst."
Lebkuchcn-Manfrcdo sagte ruhig: „O ja!" und hieb den
zarten Rosina auf die Erde, daß der Staub in die Höhe wirbelte.
Ter blonde Rosina war ein braver, sanfter Junge und lernte
bald Teller drehen, jonglircn, aus Stelzen gehen, auf dem Kopse
stehen, kurz, alle Künste, welche die Menageriepausen ausfüllten.
Er versprach ein „Künstler" zu werden, während Lebkuchen-
Manfreds nnt seinem braunen, Hitschen Gesichte und seinen schwarzen
Haaren nichts verstand, als sich mit den Bären zu wälzen.
Der alte Zio Mario war stolz aus seinen blonden Rosina
und sagte zu seiner Gattin ohne Unterleib: „Unser Sohn wird
ein Phänomen. Und ich wette, er wird einmal der Mann der
kleinen Dolorida mit den harten Thalern."
Die Gattin ohne Unterleib sagte: „Jedenfalls!"
Und der blonde Rosina-Weizenlorn rief: „Ach ja, Dolorida
muß meine Frau werden!"
Der hübsche, schwarzäugige Manfredo-Lebkuchen sagte nichts.
Aber eines Tages, als er mit Dolorida nach dem Schlüsse der
Vorstellung heimging zum Wohnungskarren, packte er sie um
die Mitte und sagte, daß sic ein schönes Mädchen sei. Sie ließ
sich küssen, lachte dann und gab ihm eine Ohrseigc. „Was unter-
stehst Tu Dich?" sagte sie.
Der goldbraune, schöne Junge schüttelte sich das schwarze