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Imago: Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften — 4.1916

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IV.4
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Reik, Theodor: Die Pubertätsriten der Wilden, [2]: über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker
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https://doi.org/10.11588/diglit.42097#0211
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Die Pubertätsriten der Wilden

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bung würden sonst den von der Zensur zurückgewiesenen Impulsen
immer noch einen Notausgang erlauben.
Wir werden gewiß nicht behaupten wollen, daß der Erfolg der
Absicht der älteren Generation entspricht, daß also die Knaben nun
wirklich alles Frühere vergessen hätten. Gewiß aber existiert eine
solche Absicht, wenn auch unbewußt und es wäre nicht unmöglich,
daß unter dem kombinierten Eindrücke ungeheuerer Entbehrungen,
Qualen und der mystischen Geisterbegegnung sich eine Verdrängung
jener Tendenzen bei den Jungen durchsetzte. Sie würden dann in
ihrem Benehmen bei der Rückkehr den nervös Erkrankten gleichen,
deren Gedächtnis ganze Jahre, ja sogar Lebensabschnitte verloren
gingen: die Analyse weist auch bei ihnen nach, daß die Verdrängung
ursprünglich relativ wenigen, typischen Gefühlen und Erlebnissen
galt, die den Kranken als unvereinbar mit den Ichgefühlen erschienen,
und daß sich die Amnesie von diesen unlustbetonten Punkten im
Wege der Verschiebung erst allmählich auf große Zeitabschnitte er-
weiterte.
Nun werden wir hoffen dürfen, auch die spezielleren Riten
der Rückkehr psychologisch zu verstehen, Die australischen Männer,
welche den zurückgekehrten Novizen sagen: »Dies ist dein Vater,
dies deine Mutter«, wollen ausdrüdcen: dies ist der Vater und deine
Mutter, zu denen du in veränderten Beziehungen stehst. Die Ver-
gessenheit bringende Intoxikation der Indianerjünglinge in Virginia
erinnert an den Lethetrank der Alten ebenso wie an Sühnegebräuche
anderer primitiver Stämme1.
Wenn die Jünglinge <nach Schellongs Bericht) mit geschlossenen
Augen einherziehen und erst auf wiederholtes Auffordern die Augen
öffnen, so werden wir in dem Liderschließen und -öffnen zwei Hand-
lungen sehen, deren Charakter der Sexualabstinenz und -freiheit in
den Weihen ähnelt, Ist doch das Auge jenes Körperorgan, dem
eine hervorragende Rolle bei der Objektfindung und -Werbung zu-
fällt, da es durch die Schönheit gereizt wird. Neben dieser erogenen
Bedeutung der Augen werden gewiß noch andere Momente für
dieses Benehmen der Novizen entscheidend sein. Wir würden etwa
sagen: sie sollen gleichsam aus ihrer Blindheit erwachen, um die
Welt aus anderen Augen anzusehen. Mit welchen Augen? wird man
sich fragen dürfen. Die Antwort ist leicht gegeben: mit denselben
Augen wie diejenigen, die ihnen befehlen zu sehen, wie die Häupt-
linge, wie ihre Väter und erwachsenen Brüder. Wir treffen hier
1 Wir erinnern daran, daß bei ausbleibendem Erfolg die Jünglinge einen
stärkeren Trank erhalten, der sie endgültig ins Land des Letheflusses entführt.
Man erkennt sogleich, was vergessen werden soll, wenn man mit diesem Ritus
die Beichte der Beschnittenen bei den Basutos vergleicht, Wie Ch. Stech <im
»Daheim«, 1879, Heft 24, p. 384) berichtet, werden die in der Beichte der Novizen
zutage tretenden Vergehen durch harte Züchtigungen geahndet. Sodann macht ein
großer Topf voll Zaubermedizin die Runde, wovon jeder trinken muß. Wer die
Wahrheit gesagt hat, dem soll die Medizin nicht schaden, während der Lügner
furchtbare Schmerzen empfindet und schließlich stirbt,
 
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