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zuhauchen, d.h. den Schaffensprozeß des Künstlers umzukehren, verhält es sich beim Theater-
effekt genau umgekehrt: Ein Augenblick, in dem das Geschehen eines Stücks gipfelt oder
endet, wird konserviert. Beide Phänomene zeugen von dem Versuch, sich der Malerei bzw.
Bildhauerei anzunähern, zum einen durch Belebung, zum anderen durch Estarrung.«28

Der Begriff des »lebenden« Bildes mutet angesichts der völligen Erstarrung und Ver-
stummung vielleicht merkwürdig an, wenn man den Begriff im Sinne von »lebendig« inter-
pretiert. Mit der Erweiterung »lebend« oder »vivant« ist aber vielmehr die Umkehrung von
»tot« gemeint. »Leben« ist in diesem Zusammenhang weniger als Aktivität oder Alltag im
gesellschaftlichen Sinne zu verstehen, sondern vielmehr - geradezu im biologischen Sinne -
als Belebtheit, als Lebendigsein im Gegensatz zum Unbelebten.29

Das zugrundeliegende Prinzip der lebenden Bilder beruht auf »Illusion«, »Täuschung«
oder »Schein« in der spezifischen Form einer Scheinillusion des Lebendigen, jedoch auch mit
der Forderung nach der Verkörperung des »Ideals«.30 Vor allem bei den nachgestellten leben-
den Bilder, die die Gestaltungs- und Kompositionsprinzipien bereits vorhandener Kunstwer-
ke wie Gemälde oder Stiche imitieren, ist durch den Medienwechsel die Überraschung der
Entdeckung des Lebens in der Nachahmung von Kunst ein wichtiges Charakteristikum dieses
ästhetischen, ephemeren Spiels. Der Effekt, der durch die Verquickung von »toter«, zugleich
ewiger, idealer Kunst und von bewegtem, an einen Ort gebundenem und der Zeit ausgeliefer-
tem - in aller Natürlichkeit mangelhaftem - Leben entsteht, kann nicht hoch genug einge-
schätzt werden. Während das Publikum immer Betrachter bleibt, erleben die Darsteller das
Bild unmittelbar, indem sie zu seinem Bestandteil werden und zu seiner Vergegenwärtigung
beitragen. Stammen die Darsteller aus den Reihen des Publikums, ist dieser Effekt umso
größer, denn die Vermischung von Leben und Kunst wird so für beide Seiten erfahrbar. Eine
besondere gesellschaftliche Komponente kommt in dem Moment hinzu, wenn ausgewählte
Personen die Darstellung einer bestimmten Person übernehmen sollen, so daß ein spezifi-
scher inhaltlicher Bezug zwischen der dargestellten und der darstellenden Person hergestellt
wird. So sind lebende Bilder nicht nur ein Spiel zwischen Kunst und Leben, sondern ebenso
zwischen Zeit und Raum, zwischen 'Sein und Schein, zwischen Ideal und Natur, zwischen
Objekt und Subjekt oder zwischen Vergänglichkeit und Dauer.

Der Kontext, in dem die lebenden Bilder standen, unterlag einem zeitlichen Wandel.
Dienten sie im Mittelalter hauptsächlich der Veranschaulichung der kirchlichen Lehre, in der
Renaissance und im Barock der Verherrlichung von Fürsten, so wurden sie in der Aufklärung
als belehrendes Element eingesetzt. Die pädagogischen Absichten des 18. Jahrhunderts wur-

28 Siehe Puster 1988, S.14. Die umfassende Lexika-Recherche von Puster soll hier nicht wiederholt
werden. Sie untersuchte zahlreiche Enzyklopädien und Theaterlexika, die teilweise nur einen Be-
griff »Tableau« (Deutsches Theaterlexikon, Friedrichs Theaterlexikon, Dictionnaire des arts du
spectacle, La Langue Theätrale) oder »Tableau vivant« (The International Cyclopaedia, Nelson's
Encyclopedia, The Encyclopedia Americana) führen, oderteide Begriffe enthalten, jedoch inhalt-
lich nicht differenzieren (Century dictionary, Oxford advanced learner's dictionary of current
English). Tatsächlich inhaltliche Unterscheidungen fand sie nur in vier Lexika (Ehciclopedia dello
Spettacolo, Dictionnaire du theätre, Rischbieters Theaterlexikon, Braunecks Theaterlexikon), die
Definition des »Tableau vivant« als spezielle Form des »Tableau« fand sie nur bei Rischbieter, dem
Theaterlexikon von Trilse und im Oxford English dictionary, vgl. Puster 1988, S.6-14.

29 Ganz anders als der metaphorische Gebrauch des Gattungsbegriffs »Stilleben«, der erstmals um
1650 in einem holländ. Inventar auftauchte.

30 Hier muß vor allem die Nähe zum Theater und der - durch die körperliche Medialität - spezielle
Umgang mit »Sein und Schein« bedacht werden. Schütz weist auf die terminologische Unklarheit
bei dem Verhältnis von ästhetischer Illusion und Realität im allgemeinen und theatraler Illusion
und Realität im besonderen hin, vgl. Schütz 1984, S.9. Vgl. auch Kap.3.1.1. und Kap.5.1.3.

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