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Jooss, Birgit
Lebende Bilder: körperliche Nachahmung von Kunstwerken in der Goethezeit — Berlin, 1999

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https://doi.org/10.11588/diglit.22768#0023
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den allerdings schnell - um 1800 - durch das gesellige Vergnügen der höfischen Gesellschaft
und schließlich des Bürgertums abgelöst, das sich die Privilegien des Adels, so auch das des
»Scheins« rasch aneignete. Die lebenden Bilder, die dem Augenblick huldigen, entwickelten
sich zu einer neuen Variante im breiten Spektrum der Gesellschaftsspiele, zu einer anspruchs-
vollen und willkommenen Unterhaltung, die der Geschmacksbildung diente. Gerade das Spiel
der Wechselwirkung von Bewegung und Erstarrung, von Wirklichkeit und Fiktion leistete
dem allgemeinen Drang nach Schaustellung Genüge. Die Leidenschaft, seine Persönlichkeit
zugunsten einer theatralen Aufführung gerade so weit zu verwandeln, daß ihr Kern zwischen
Sein und Schein stand, nahm an den Höfen und beim Adel im 18. Jahrhundert eine kaum
überbietbare Form an.31 Der inszenierte und illusionäre Raum von Festlichkeiten bot den
entsprechenden Rahmen. Bei der speziellen Form des Nachstellens konnte die Aneignung der
»hohen« Kunst durch den Laien wohl nicht direkter erfolgen als in der Imitation eines Bildes
durch den eigenen Körper. Der gebildete und »erkennende« Betrachter vollendete schließlich
dieTableaux vivants in ihrem Bildprozeß.32

Eine genaue Differenzierung verschiedener Formen lebender Bilder ist oft schwierig, da
die Quellen, aber auch die Sekundärliteratur selten eine genaue Begriffserklärung geben und
die Aussagen meist mehrdeutig sind. Grundsätzlich ist zwischen lebenden Bildern freier Kom-
position, also nach eigenständigen Erfindungen, und lebenden Bildern nach konkreten Vorla-
gen, das heißt nach schon vorhandenen Kunstwerken, zu unterscheiden. Problematisch ist in
diesem Zusammenhang die Frage nach tradierten Bildtopoi, nach allgemeingültigen ikonogra-
phischen Grundbildern oder theatralischen Codes, die sowohl der Literatur, dem Theater, dem
religiösen Umfeld oder der bildenden Kunst zugrundeliegen. Frei komponierte lebende Bil-
der orientierten sich eventuell an denselben Kriterien wie es ein Gemälde getan hat, das zum
Vorbild eines nachgestellten lebenden Bildes wurde. Die Ergebnisse können dementsprechend
ähnlich ausfallen, die Grenzen sind fließend. Um jedoch überhaupt Aussagen treffen zu kön-
nen, müssen die Grenzfälle an dieser Stelle beiseite geschoben werden, um zu versuchen, die
»Prototypen« der verschiedenen Formen lebender Bilder zu definieren:

Die frei erfundenen lebenden Bilder behandeln bis ins 18. Jahrhundert Themen bibli-
scher, später auch allegorischer, symbolischer oder mythologischer Art. Sie können sich zu
aufwendigen Szenarien entwickeln, wobei die künstlerisch komponierte Gruppe dem Betrachter
einen-»bewegenden« Augenblick vor Augen führt. Sie werden frei wie ein autonomes Kunst-
werk erfunden, richten sich aber natürlich vielfach nach Vorgaben. Die verschiedensten Berei-
che können dabei als Inspirationsquellen dienen, wie etwa lebende Bilder nach Literatur,
nach der aktuellen Zeitgeschichte oder nach Sprichwörtern. Anregungen durch bereits vor-
handene Bilder können nicht ausgeschlossen werden.

31 Vgl. Frenzel 1959. S.13.

32 Die Modell-Situation innerhalb von Künstlerateliers, in der natürlich auch Bilder durch Personen
gestellt werden, ist kein lebendes Bild im engeren Sinne. Carroll geht in ihrem Artikel unter dem
Untertitel »Beyond Tableau Vivant« auf diese Situation in Bezug auf Davids arrangierender Tätig-
keit ein. Er holte sich Schauspieler von der Bühne, arrangierte sie zu einem Bild, das ihm als
Vorbild für sein Gemälde diente: »David can be said to have created a tableau vivant and then
depicted it on the canvas, inverting the ususal process«, siehe Carroll 1990, S.259. Situationen, in
denen sich Künstler ihre Modelle zu einem starren Bild arrangierten, sind keine Seltenheit. Sehr
anschaulich beschreibt Alpers beispielsweise die Modell-Situation in Rembrandts Atelier und die
Nähe zum Theater und zum Rollenspiel, vgl. Alpers 1989, S.80-127. Der Charakter des Bildes mag
ähnlich sein, doch die Absicht, oder - um Baxandall zu folgen - die Intention, und die Art der
Rezeption sind vollkommen anders geartet. Die volle Realisierung eines lebenden Bildes erfolgt
erst in seiner Rezeption. Der Betrachter ist konstituierender Part der Darbietung, der Auffüh-
rungscharakter wesentlich. Ich möchte daher diese Situation nicht als lebendes Bild oder Tableau
vivant bezeichnen.

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