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Zeitschrift des Kunst-Gewerbe-Vereins zu München — 22.1872

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Schmädel, Josef von: Ueber den Einfluß der exakten Wissenschaften und der Technik auf die stylistische Entwicklung der schönen Künste, [1]: Vortrag, gehalten im Polytechnischen Verein zu München am 2. Januar 1872
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Zeitschrift

des

Kunst - G

e w e r >> e - V e r ei n s.

Zweiiindzwanzigstcr Jahrgang.

München. __ /Tn .5 4' «. 1872.

Die Zeitschrift erscheint monatlich mit wenigstens zwei Seiten Text und zwei Kunstbeilagen. Die Bereinsmitglieder erhalten die Zeitschrift unentgeltlich. Im Buch-
handel kostet dieselbe 4 fl. s. W. — 2 Thlr. 12 Sgr. der Jahrgang. Inserate geeigneten Inhaltes werden mit 6 kr. — 2 Sgr. für den Raum einer gespaltenen
Petitzeile berechnet. Ständige Inserate erhalten eine entsprechende Preisermäßigung. In- und Auswärtige wollen sich dieserhalb an die Buchhandlung von

Theodor Ackermann dahier wenden.

lieber den Einfluß der exakten Wissenschaften und
der Technik auf die stylistische Entwickelung der
schönen Künste.

Vortrag, gehalten im Polytechnischen Verein zu München am 2. Januar 1872

von

Jos. v. Schmädcl.

Meine Herren!

In meinem heutigen Vortrage will ich über den Einfluß der
exakten Wissenschaften und der Technik auf die stylistische Entwick-
lung der schönen Künste sprechen. Es mag zwar für den ersten
Augenblick gewagt erscheinen, in einem Vereine, der lediglich die
Förderung der Technik im Auge hat, ein Thema zu behandeln, das
anscheinend wenigstens im Widerspruche mit diesen Bestrebungen
steht, indem es vornehmlich dem Gebiete der schönen Künste ent-
nommen ist. Doch gerade deßhalb, weil es gewagt erscheint, in
Wirklichkeit aber die Wechselbeziehungen zwischen der Technik und
der Kunst doch so mannigfaltig, ja geradezu regenerirend und um-
gestaltend in ihrer Wirkung auf letztere sind, dürfte es nicht un-
interessant sein zu zeigen, wie gerade die exacten Wissenschaften, welche
ja doch die Grundpfeiler der Technik genannt werden müssen, zu
wiederholten Malen von hervorragendem Einflüsse ans die stylistische
Entwicklung der schönen Künste gewesen sind. — Es handelt sich
hier vor Allem um die Definition des Begriffes „Styl". Von
vornherein möchte ich bemerken, daß ich nicht von einem archi-
tektonischen Style allein spreche, sondern daß ich den Styl der
schönen Künste in ihrer Gesammtheit im Auge habe. — Was ist
demnach Styl?

Styl ist die sichtbare oder hörbare Ausdrucksweise unserer
idealen Bestrebungen, entwickelt aus bestimmt festgesetzten, kon-
struktiven Grundgedanken. — Betrachten wir diese Definition vom
praktischen Standpunkte aus, so finden wir, daß der Styl als
sichtbare Ansdrucksweise unserer idealen Bestrebungen die Gebiete
der Architektur, der Bildnerei und Malerei, als hörbare Ansdrucks-
weise die Gebiete der Tonkunst und der Poesie beherrscht. Ferner
finden wir, daß die konstruktiven Grundgedanken, welche den schönen
Künsten für ihre stylistische Entwicklung zur Verfügung stehen, an
Zahl sehr wenige, aber in ihrer Entwicklungsfähigkeit und Ver-
werthung unendlich dehnbare sind.

Wir haben hier in der Welt der Kunstsormen dieselben Ge-
setze, wie sie in dem Walten und Schaffen der Natur erkennbar
sind. „So wie nämlich die Natur bei ihrer unendlichen Fülle doch
in ihren Motiven höchst sparsam ist, wie sich eine stetige Wieder-
holung in ihren Grundformen zeigt, wie aber diese nach den
Bildungsstufen der Geschöpfe und nach ihren verschiedenen Daseins-
bedingungen tausendfach modifizirt, in Theilen verkürzt oder ver-.
längert, in Theilen ausgebildet, in anderen nur angedeutct er-

scheinen, wie die Natur ihre Entwicklungsgeschichte hat, innerhalb
welcher die alten Motive bei jeder Neugestaltung wieder durch-
blicken, ebenso liegen auch der Kunst nur wenige Normalformen
und Typen unter, die in stetem Wiederhervortreten dennoch eine
unendliche Mannigfaltigkeit darbieten und gleich jenen Naturtypen
ihre Geschichte haben." (Semper.)

Betrachten wir nun die Geschichte der Kunst, so finden wir
in ihrem Verlaufe, getrennt durch größere Zeitabschnitte, eine Reihe
von abgeschlossenen Stylepochen. Bevor ich etwas näher auf diese
interessante Erscheinung der verschiedenen Stylepochen eingehe, will
ich erst darlegen, was ich mit dem Ausdrucke „Stylepoche" sagen
will. Ich gebrauche diesen Ausdruck für einen geschichtlichen Zeit-
abschnitt, in welchem die schönen Künste in ihrer Gesammtheit eine
vollständig gleichartige, originelle Entwicklung zeigen, welche aus
dem nämlichen oder verwandten konstruktiven Grundgedanken her-
vorgegangen, die ideale Charakteristik einer Culturepoche klar er-
kennen läßt. Um dieß durch ein Beispiel deutlich zu machen, nenne
ich die Stylepoche der Gothik. Sie fällt in ihrer reinsten Ent-
wickelung in den Anfang des 14. Jahrhunderts. Die Baukunst,
nachdem sie den Boden des Romanismus verlassen hat, zeigt einen
neuen und kühnen Organismus, in welchem der konstruktive Grund-
gedanke des Spitzbogens und der polygonalen Ueberschneidungen
der Grundrißformen mit einer staunenswerthen Consequenz selbst
bis ins kleinste Detail zur Durchführung gebracht ist. Die Bild-
nerei und Malerei, welche nicht die geringste Erinnerung an die
Antike beibehalten haben, zeigen dieselbe Strenge des Styles und
zeigen uns auch durch die naturalistische Wiedergabe der Kostüme
jener Zeit, daß auch diese stylistisches Gepräge trugen. Erinnern
wir uns an die Sebaldus- und Lorenziuskirche in Nürnberg, an
den schönen Brunnen daselbst, als nahe liegende Beispiele, so
werden wir leicht die gleichartige stylistische Durchbildung der ge-
nannten drei Künste erkennen können.

Betrachten wir ferner die Ueberreste der Kunstindustrie aus
jener Zeit, wie sie uns in so reicher Fülle im hiesigen National-
museum vor Augen geführt werden, so finden wir, daß die Leute
nicht nur gothisch gebaut oder gemalt haben, sondern daß sie auch
aus gothischen Schüsseln aßen, aus gothischen Humpen tranken,
auf gothischen Stühlen saßen, an gothischen Oefen sich erwärmten,
ja mit gothischem Kamme ihre Haare ordneten u. s. w.

Auf die übrigen Künste übergehend finden wir, daß die Poesie,
den ausschließlichen Gebrauch der lateinischen Sprache verwerfend,
wieder die Muttersprache zum Ausdrucke ihrer erhabensten Ge-
danken und Empfindungen gebrauchte und im Minnesang und
Ritterepos zum eigengearteten, doch der ganzen damaligen Zeit
genau anpassendem Ausdruck gelangte. Dieselbe übte somit auch
ihren Einfluß auf die Musik aus, indem sie durch die Minnesänger
eine gewisse stylistische Durchbildung der Tonkunst hervorrief. Wir
haben also hier ein deutliches Beispiel von der eigenthümlichen Er-
scheinung, daß in der Geschichte Epochen cxistiren, in welchen so
 
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