III. Von den dargestellten zu den empfùndenen Leidenschaften
Hatte Aristoteles in seinen Überlegungen zu den Leidenschaften und ihrer Wieder-
gabe das Verhältnis Kunstwerk-Publikum mit dem Hinweis auf die Rhetorik bereits
berührt, so wurde diese Frage von Horaz in seiner »Ars poetica« ausführlicher behan-
delt. Dort heißt es dazu:
»Es genügt nicht, daß Dichtungen schön sind; sie seien gewinnend, sollen den Sinn des
Hörers lenken, wohin sie nur wollen.
Mit den Lachenden lacht, mit den Weinenden weint das Antlitz des Menschen. Willst
du, daß icli weine, so traure erst einmal selbst; dann wird dein Unglück mich treffen,
Telephos und Peleus; entledigst du dich nur eines unpassenden Auftrages, so schlafe ich
ein oder muß lachen.«96
Dieser Gedanke sollte von Boileau aufgegriffen werden, der in Anlehnung an sein
Vorbild formulierte:
»Que dans tous vos discours la passion émue / Aille chercher le cœur, l'échauffe, et le
remue. / Si d'un beau mouvement l'agreable fureur / Souvent ne nous remplit d'une
douce terreur, / Ou n'excite en nostre ame une pitié charmante, / Envain vous étalez
une scene sçavante: / Vos froids raisonnemens ne feront qu'attiédir / Un spectateur toû-
jours paresseux d'applaudir, / Et qui des vains efforts de vostre rhétorique,/Justement
fatigué, s'endort, ou vous critique. / Le secret est d'abord de plaire et de toucher: /
Inventez des ressorts qui puissent m'attacher.«
(Daß in all Euren Stücken glühende Leidenschaft die Herzen anrührt, ergreift und
erregt. Wenn die Heftigkeit einer schönen Regung zwar recht zugemessen ist, uns aber
weder mit leisem Schauer erfüllt noch ein bezwingendes Mitgefühl weckt, dann bleibt
jede noch so kunstvolle Szene ohne Wirkung: leidenschaftslose Ausführungen lassen
einen Zuschauer, der ohnehin selten applaudiert, nur unaufmerksam werden, und er
wird, von den vergeblichen Bemühungen Eurer Beredsamkeit erst recht ermüdet, ein-
schlafen oder seiner Mißstimmung Ausdruck geben. Die vordringliche Aufgabe muß
also sein: zu gefallen und zu rühren - deshalb findet Mittel, mich anzulocken.)97
Es ist also das Publikum, das - wie Boileau noch einmal im Vorwort zu seinen 1701
erschienenen gesammelten Werken betonte - über die Qualität eines Kunstwerkes
urteilt und bestimmt: »... un ouvrage qui n’est point goûté du public, est un très-
méchant ouvrage.« (. . . ein Werk, das vom Publikum nicht geschätzt wird, ist ein sehr
schlechtes Werk.)98
Was unterscheidet nun diese Überlegungen von den bisherigen Vorstellungen, in
denen das Publikum kaum oder keine Berücksichtigung fand? Für den Akademiker
des 17. Jahrhunderts hatte sich der Betrachter und sein Verhältnis zum Kunstgegen-
96 Horaz, Ars poetica. Die Dichtkunst, Stuttgart 1972, V. 99-105.
97 Boileau, op.cit. (Anm. 47), Ch.III (V. 15-26), S. 169 (Übers. S. 36/39).
98 Boileau, Œuvres complètes, op. cit. (Anm. 47), S. 3.
Hatte Aristoteles in seinen Überlegungen zu den Leidenschaften und ihrer Wieder-
gabe das Verhältnis Kunstwerk-Publikum mit dem Hinweis auf die Rhetorik bereits
berührt, so wurde diese Frage von Horaz in seiner »Ars poetica« ausführlicher behan-
delt. Dort heißt es dazu:
»Es genügt nicht, daß Dichtungen schön sind; sie seien gewinnend, sollen den Sinn des
Hörers lenken, wohin sie nur wollen.
Mit den Lachenden lacht, mit den Weinenden weint das Antlitz des Menschen. Willst
du, daß icli weine, so traure erst einmal selbst; dann wird dein Unglück mich treffen,
Telephos und Peleus; entledigst du dich nur eines unpassenden Auftrages, so schlafe ich
ein oder muß lachen.«96
Dieser Gedanke sollte von Boileau aufgegriffen werden, der in Anlehnung an sein
Vorbild formulierte:
»Que dans tous vos discours la passion émue / Aille chercher le cœur, l'échauffe, et le
remue. / Si d'un beau mouvement l'agreable fureur / Souvent ne nous remplit d'une
douce terreur, / Ou n'excite en nostre ame une pitié charmante, / Envain vous étalez
une scene sçavante: / Vos froids raisonnemens ne feront qu'attiédir / Un spectateur toû-
jours paresseux d'applaudir, / Et qui des vains efforts de vostre rhétorique,/Justement
fatigué, s'endort, ou vous critique. / Le secret est d'abord de plaire et de toucher: /
Inventez des ressorts qui puissent m'attacher.«
(Daß in all Euren Stücken glühende Leidenschaft die Herzen anrührt, ergreift und
erregt. Wenn die Heftigkeit einer schönen Regung zwar recht zugemessen ist, uns aber
weder mit leisem Schauer erfüllt noch ein bezwingendes Mitgefühl weckt, dann bleibt
jede noch so kunstvolle Szene ohne Wirkung: leidenschaftslose Ausführungen lassen
einen Zuschauer, der ohnehin selten applaudiert, nur unaufmerksam werden, und er
wird, von den vergeblichen Bemühungen Eurer Beredsamkeit erst recht ermüdet, ein-
schlafen oder seiner Mißstimmung Ausdruck geben. Die vordringliche Aufgabe muß
also sein: zu gefallen und zu rühren - deshalb findet Mittel, mich anzulocken.)97
Es ist also das Publikum, das - wie Boileau noch einmal im Vorwort zu seinen 1701
erschienenen gesammelten Werken betonte - über die Qualität eines Kunstwerkes
urteilt und bestimmt: »... un ouvrage qui n’est point goûté du public, est un très-
méchant ouvrage.« (. . . ein Werk, das vom Publikum nicht geschätzt wird, ist ein sehr
schlechtes Werk.)98
Was unterscheidet nun diese Überlegungen von den bisherigen Vorstellungen, in
denen das Publikum kaum oder keine Berücksichtigung fand? Für den Akademiker
des 17. Jahrhunderts hatte sich der Betrachter und sein Verhältnis zum Kunstgegen-
96 Horaz, Ars poetica. Die Dichtkunst, Stuttgart 1972, V. 99-105.
97 Boileau, op.cit. (Anm. 47), Ch.III (V. 15-26), S. 169 (Übers. S. 36/39).
98 Boileau, Œuvres complètes, op. cit. (Anm. 47), S. 3.