IX. Ästhetik und Wissenschaft: Diderot
»Touche-moi, étonne-moi, déchire-moi; fais-moi tressaillir, pleurer, frémir, m'indigner
d'abord; tu récréeras mes yeux après si tu peux.«
(Erst ergreife mich, setze mich in Erstaunen, zerreiße mir das Herz, laß mich
erschauern, weinen, beben und aufbegehren, nachher wirst Du, wenn Du kannst, meine
Augen zu neuem Leben erwecken.)457
Mit diesem emphatischen Ausruf umschrieb Diderot die Aufgabe (und die Möglich-
keit) der Malerei. Die raison ist in dem Rezeptionsprozeß zwar nicht ausgeschlossen,
sie spielt jedoch eine nachgeordnete Rolle. Die durch ein Kunstwerk beim Betrachter
hervorgerufenen Emotionen treten plötzlich auf und werden nicht von dem durch
die raison geleiteten Willen beherrscht.
»>Apage, Sophista!< tu ne persuaderas jamais à mon cœur qu'il a tort de frémir; à mes
entrailles, qu'elles ont tort de s'émouvoir.«
(»Hebe Dich weg von mir, Sophist!« Du wirst niemals mein Herz davon überzeugen,
daß es kein Recht habe zu zittern, auch niemals mein Inneres, daß es kein Recht habe,
in Erregung zu geraten.)458
Mit anderen Worten: Wenn die Malerei dieser ihrer Aufgabe, »d'aller à Tarne par
l'entremise des yeux« (auf dem Weg über die Augen bis zur Seele zu dringen), nach-
zukommen verfehle, wenn »l'effet s'arrête aux yeux« (die Wirkung nur bis zu den
Augen gelangt)459, dann habe der Künstler seine Aufgabe nicht zufriedenstellend
erfüllt. Diesen Anforderungen könne das Kunstwerk nur genügen, wenn es verständ-
lich sei. Dem stehe indes eine bildungsmäßige Überfrachtung durch Allegorien oder
durch allegorisch-reale Mischwesen entgegen, wie sie Diderot in dem Werk von
Rubens, besonders bei der »Medici-Galerie« kritisierte460. Und so warnte er auch den
Künstler in deutlicher Anlehnung an Du Bos vor der Einführung neuer allegorischer
Figuren:
»N'inventez de nouveaux personnages allégoriques qu'avec sobriété, sous peine d'être
énigmatique.«
(Erfinden Sie neue allegorische Figuren nur mit Maß, Sie werden sonst rätselhaft.)461
Auch bestehe sonst die Gefahr, daß der Betrachter sich langweilt.
457 Diderot, op. cit. (Anm. 377), S. 499 (Übers. S. 673).
458 Ebd., S. 517 (Übers. S. 691).
459 Diderot, op. cit. (Anm. 208), Bd. 2, S. 174 (Übers. Bd. 1, S. 590).
460 Diderot, op. cit. (Anm. 377), S. 500.
461 Denis Diderot, Pensées détachées sur la peinture, la sculpture, l'architecture et la poésie, pour
servir de suite aux »Salons«, in: ders., op. cit. (Anm. 205), Bd. 12, S. 84 (Übers. Bd. 1, S.' 585).
Du Bos hatte ebenfalls vor der Einführung neuer Allegorien gewarnt, die Verwendung von dem
Betrachter bekannten allegorischen Figuren jedoch akzeptiert. Diderot äußerte sich auch in sei-
»Touche-moi, étonne-moi, déchire-moi; fais-moi tressaillir, pleurer, frémir, m'indigner
d'abord; tu récréeras mes yeux après si tu peux.«
(Erst ergreife mich, setze mich in Erstaunen, zerreiße mir das Herz, laß mich
erschauern, weinen, beben und aufbegehren, nachher wirst Du, wenn Du kannst, meine
Augen zu neuem Leben erwecken.)457
Mit diesem emphatischen Ausruf umschrieb Diderot die Aufgabe (und die Möglich-
keit) der Malerei. Die raison ist in dem Rezeptionsprozeß zwar nicht ausgeschlossen,
sie spielt jedoch eine nachgeordnete Rolle. Die durch ein Kunstwerk beim Betrachter
hervorgerufenen Emotionen treten plötzlich auf und werden nicht von dem durch
die raison geleiteten Willen beherrscht.
»>Apage, Sophista!< tu ne persuaderas jamais à mon cœur qu'il a tort de frémir; à mes
entrailles, qu'elles ont tort de s'émouvoir.«
(»Hebe Dich weg von mir, Sophist!« Du wirst niemals mein Herz davon überzeugen,
daß es kein Recht habe zu zittern, auch niemals mein Inneres, daß es kein Recht habe,
in Erregung zu geraten.)458
Mit anderen Worten: Wenn die Malerei dieser ihrer Aufgabe, »d'aller à Tarne par
l'entremise des yeux« (auf dem Weg über die Augen bis zur Seele zu dringen), nach-
zukommen verfehle, wenn »l'effet s'arrête aux yeux« (die Wirkung nur bis zu den
Augen gelangt)459, dann habe der Künstler seine Aufgabe nicht zufriedenstellend
erfüllt. Diesen Anforderungen könne das Kunstwerk nur genügen, wenn es verständ-
lich sei. Dem stehe indes eine bildungsmäßige Überfrachtung durch Allegorien oder
durch allegorisch-reale Mischwesen entgegen, wie sie Diderot in dem Werk von
Rubens, besonders bei der »Medici-Galerie« kritisierte460. Und so warnte er auch den
Künstler in deutlicher Anlehnung an Du Bos vor der Einführung neuer allegorischer
Figuren:
»N'inventez de nouveaux personnages allégoriques qu'avec sobriété, sous peine d'être
énigmatique.«
(Erfinden Sie neue allegorische Figuren nur mit Maß, Sie werden sonst rätselhaft.)461
Auch bestehe sonst die Gefahr, daß der Betrachter sich langweilt.
457 Diderot, op. cit. (Anm. 377), S. 499 (Übers. S. 673).
458 Ebd., S. 517 (Übers. S. 691).
459 Diderot, op. cit. (Anm. 208), Bd. 2, S. 174 (Übers. Bd. 1, S. 590).
460 Diderot, op. cit. (Anm. 377), S. 500.
461 Denis Diderot, Pensées détachées sur la peinture, la sculpture, l'architecture et la poésie, pour
servir de suite aux »Salons«, in: ders., op. cit. (Anm. 205), Bd. 12, S. 84 (Übers. Bd. 1, S.' 585).
Du Bos hatte ebenfalls vor der Einführung neuer Allegorien gewarnt, die Verwendung von dem
Betrachter bekannten allegorischen Figuren jedoch akzeptiert. Diderot äußerte sich auch in sei-