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Von den dargestellten zu den empfundenen Leidenschaften
Auch wenn nun die Starrheit des alten Wissenschaftsgefüges aufgehoben war und
die einzelnen Fachrichtungen mit Hilfe der expérience auf ihre unterschiedlichen
Bedürfnisse eingehen konnten, so zeigte sich doch langfristig, daß die Kunst nicht
mehr Mitglied in der Großfamilie der Wissenschaften bleiben konnte. Selbst die
mittlerweile empirisch arbeitenden Disziplinen konnten nicht ein Gebiet akzeptie-
ren, dessen Überprüfbarkeit auf Grund von Begriffen wie génie, goût oder sentiment
nicht mehr gewährleistet war. Die Kunst begann nun langsam, aus der Reihe der Wis-
senschaften zu treten beziehungsweise herausgedrängt zu werden, eine Entwicklung,
die um die Wende zum 19. Jahrhundert weitgehend abgeschlossen war.
Die Académie hatte, selbst nach ihrer Aussöhnung mit Roger de Piles, dessen
Ansicht nicht übernehmen können, die allumfassende Macht der raison zu beschrän-
ken und die Bedeutung des sentiment aufzuwerten. So verwundert es nicht, daß Du
Bos' Theorie von der Institution nicht aufgegriffen wurde, bildeten doch gerade
diese Überlegungen einen wesentlichen Bestandteil seines Denkmodells. Es über-
rascht jedoch ein wenig, auf Seiten der Académie keine Resonanz beobachten zu
können, die sich kritisch mit dem Werl< auseinandersetzte, obwohl dieses doch eine
ziemliche Popularität genoß und in recht kurzer Zeit mehrere Auflagen erfuhr133. Bis
zur Jahrhundertmitte war die Académie offensichtlich zu schwach, nicht nur um die
Schrift Du Bos' zu vernichten, wie sie es noch mit den Werken de Piles' versucht
hatte, sondern selbst um in eine kritische Diskussion mit den neuen Gedanken zu
treten. Apathisch schaute sie zu, wie die Fundamente ihres Theoriegebäudes zerstört
wurden. Diese Schwäche war jedoch gleichzeitig - so paradox es klingen mag - Vor-
aussetzung für ihre Weiterexistenz. Denn hätte die Académie sich in Konfrontation
zu Du Bos' Überlegungen begeben, etwa vergleichbar dem Poussinisten-Rubeni-
sten-Streit, so wäre sie Gefahr gelaufen, daran zu zerbrechen. Du Bos' Schrift ent-
sprach zu sehr den Bedürfnissen einer Kunst, die immer mehr in den Vordergrund
trat und die die mittlerweile traditionelle, von der Académie repräsentierte Kunst
zurückdrängte.
Zurück zum Betrachter. Oben wurde der Frage nachgegangen, welche Kriterien ein
Kunstwerk zu erfüllen habe, um beim Publikum den sentiment ansprechen zu kön-
nen. Welche Voraussetzungen hat nun der Betrachter selbst zu erfüllen? Mußte er
früher in der Lage sein, mit Hilfe seiner Ratio - bei Kenntnis der ein Kunstwerk
bestimmenden Regeln - zu urteilen, so sollte er nun angesichts des früher analysier-
ten Kunstwerkes empfinden. Diese unterschiedlichen Herangehensweisen verlang-
ten vom Rezipienten unterschiedliche Fähigkeiten, die nicht nur individueller Art
133 Nach der zweibändigen Erstausgabe von 1719 erschien das Werk in erweiterter Form dreibändig
in Paris in den Auflagen von 1733, 1740, 1746, 1755 und 1770, zuerst bei Mariette, die beiden
letzten Auflagen bei Pissot. Außerdem kam es in Utrecht 1732 und 1732-1736, in Dresden 1760
und 1762 heraus.
Von den dargestellten zu den empfundenen Leidenschaften
Auch wenn nun die Starrheit des alten Wissenschaftsgefüges aufgehoben war und
die einzelnen Fachrichtungen mit Hilfe der expérience auf ihre unterschiedlichen
Bedürfnisse eingehen konnten, so zeigte sich doch langfristig, daß die Kunst nicht
mehr Mitglied in der Großfamilie der Wissenschaften bleiben konnte. Selbst die
mittlerweile empirisch arbeitenden Disziplinen konnten nicht ein Gebiet akzeptie-
ren, dessen Überprüfbarkeit auf Grund von Begriffen wie génie, goût oder sentiment
nicht mehr gewährleistet war. Die Kunst begann nun langsam, aus der Reihe der Wis-
senschaften zu treten beziehungsweise herausgedrängt zu werden, eine Entwicklung,
die um die Wende zum 19. Jahrhundert weitgehend abgeschlossen war.
Die Académie hatte, selbst nach ihrer Aussöhnung mit Roger de Piles, dessen
Ansicht nicht übernehmen können, die allumfassende Macht der raison zu beschrän-
ken und die Bedeutung des sentiment aufzuwerten. So verwundert es nicht, daß Du
Bos' Theorie von der Institution nicht aufgegriffen wurde, bildeten doch gerade
diese Überlegungen einen wesentlichen Bestandteil seines Denkmodells. Es über-
rascht jedoch ein wenig, auf Seiten der Académie keine Resonanz beobachten zu
können, die sich kritisch mit dem Werl< auseinandersetzte, obwohl dieses doch eine
ziemliche Popularität genoß und in recht kurzer Zeit mehrere Auflagen erfuhr133. Bis
zur Jahrhundertmitte war die Académie offensichtlich zu schwach, nicht nur um die
Schrift Du Bos' zu vernichten, wie sie es noch mit den Werken de Piles' versucht
hatte, sondern selbst um in eine kritische Diskussion mit den neuen Gedanken zu
treten. Apathisch schaute sie zu, wie die Fundamente ihres Theoriegebäudes zerstört
wurden. Diese Schwäche war jedoch gleichzeitig - so paradox es klingen mag - Vor-
aussetzung für ihre Weiterexistenz. Denn hätte die Académie sich in Konfrontation
zu Du Bos' Überlegungen begeben, etwa vergleichbar dem Poussinisten-Rubeni-
sten-Streit, so wäre sie Gefahr gelaufen, daran zu zerbrechen. Du Bos' Schrift ent-
sprach zu sehr den Bedürfnissen einer Kunst, die immer mehr in den Vordergrund
trat und die die mittlerweile traditionelle, von der Académie repräsentierte Kunst
zurückdrängte.
Zurück zum Betrachter. Oben wurde der Frage nachgegangen, welche Kriterien ein
Kunstwerk zu erfüllen habe, um beim Publikum den sentiment ansprechen zu kön-
nen. Welche Voraussetzungen hat nun der Betrachter selbst zu erfüllen? Mußte er
früher in der Lage sein, mit Hilfe seiner Ratio - bei Kenntnis der ein Kunstwerk
bestimmenden Regeln - zu urteilen, so sollte er nun angesichts des früher analysier-
ten Kunstwerkes empfinden. Diese unterschiedlichen Herangehensweisen verlang-
ten vom Rezipienten unterschiedliche Fähigkeiten, die nicht nur individueller Art
133 Nach der zweibändigen Erstausgabe von 1719 erschien das Werk in erweiterter Form dreibändig
in Paris in den Auflagen von 1733, 1740, 1746, 1755 und 1770, zuerst bei Mariette, die beiden
letzten Auflagen bei Pissot. Außerdem kam es in Utrecht 1732 und 1732-1736, in Dresden 1760
und 1762 heraus.