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Zur Korrektur der Gattungshierarchie
So forderte Cochin ebenfalls, daß Qualitäten des Genre in die Historienmalerei ein-
gehen müßten. Er hielt insgesamt jedoch stärker als Baillet de Saint Julien an der
Höherbewertung der Historie fest.
Es lassen sich somit zwei Argumentationen unterscheiden, die mehr oder weniger
direkt eine Kritik an dem Gattungsgefüge in seiner klassischen Form verfolgten. Die
eine Richtung - hier vertreten durch Watelet und Diderot - bemühte sich um eine
Anhebung der Genremalerei durch die Einbeziehung von Bestandteilen, die bisher
einzig die Historie auszeichneten. Es waren dies vor allem action und expression des
passions. Die so angestrebte Nobilitierung bürgerlich-alltäglicher Themen bewegte
sich aber letztlich im Rahmen der traditionellen Werteskala, denn sie sollte mit Mit-
teln vollzogen werden, die durch die akademische Doktrin abgesegnet waren. Die
uneingeschränkte Gültigkeit bestimmter akademischer Regeln war folglich Bedin-
gung für das Gelingen dieser Bemühungen. Die überkommenen Wertvorstellungen
wurden also nicht außer Kraft gesetzt, sondern korrigiert. Die Reformversuche bestä-
tigten im Grunde die Existenz einer Hierarchie (nicht jedoch deren bisherige inhalt-
liche Ausformung). Denn wofür (und auch wodurch) die Genremalerei aufwerten,
wenn die entsprechende Bewertungsgrundlage nicht mehr gültig war? Diese Vor-
gehensweise der gezielten Entlehnung von Bestandteilen der Historienmalerei zur
Nobilitierung des Genre und - wie noch zu zeigen sein wird - zur Schaffung einer
dem Genre und der Historie zwischengelagerten Gattung kann als eine spezifisch
bürgerliche Form der Aneignung von Kunst beschrieben werden411.
Anders die Argumentation, wie sie Baillet de Saint Julien vortrug: Sie stellte die
Gültigkeit der der Hierarchie zugrundeliegenden Werte selbst in Frage. Konkret
heißt das: Wurde bei der oben geschilderten Strategie die traditionelle Einschätzung
von passions und caractères beibehalten und durch die Einbeziehung der Leiden-
schaftsdarstellungen in die Genremalerei die niedrigere Bewertung der Wiedergabe
des menschlichen Charakters sogar noch bestätigt, so erfuhr letztere nun eine Bedeu-
tungssteigerung. Folge davon war, daß damit auch das Genre an Prestige gewann. Es
wurde also das Genre in seiner unveränderten, bisher im Vergleich zur Historie als
minderwertig erachteten Form höher eingestuft. Die Gattungshierarchie wurde dem-
nach hier nicht modifiziert unter Beibehaltung wesentlicher, ihr zugrundeliegender
Momente, sondern sie wurde tendenziell aufgehoben.
Der Unterschied zwischen den beiden Argumentationen liegt - um es pointiert
auszudrücken - darin, daß erstere eine Reform von traditionellen, akademischen
Werten anstrebte, deren Gültigkeit die zweite nicht anerkennen wollte.
Les Cochin, Paris 1893, S. 110, der diese Haltung Cochins bereits in dessen »Voyage d'Italie«
(1758) feststellt.
411 Siehe Werner Busch, Nachahmung als bürgerliches Kunstprinzip. Ikonographische Zitate bei
Hogarth und in seiner Nachfolge, Hildesheim/New York 1977.
Zur Korrektur der Gattungshierarchie
So forderte Cochin ebenfalls, daß Qualitäten des Genre in die Historienmalerei ein-
gehen müßten. Er hielt insgesamt jedoch stärker als Baillet de Saint Julien an der
Höherbewertung der Historie fest.
Es lassen sich somit zwei Argumentationen unterscheiden, die mehr oder weniger
direkt eine Kritik an dem Gattungsgefüge in seiner klassischen Form verfolgten. Die
eine Richtung - hier vertreten durch Watelet und Diderot - bemühte sich um eine
Anhebung der Genremalerei durch die Einbeziehung von Bestandteilen, die bisher
einzig die Historie auszeichneten. Es waren dies vor allem action und expression des
passions. Die so angestrebte Nobilitierung bürgerlich-alltäglicher Themen bewegte
sich aber letztlich im Rahmen der traditionellen Werteskala, denn sie sollte mit Mit-
teln vollzogen werden, die durch die akademische Doktrin abgesegnet waren. Die
uneingeschränkte Gültigkeit bestimmter akademischer Regeln war folglich Bedin-
gung für das Gelingen dieser Bemühungen. Die überkommenen Wertvorstellungen
wurden also nicht außer Kraft gesetzt, sondern korrigiert. Die Reformversuche bestä-
tigten im Grunde die Existenz einer Hierarchie (nicht jedoch deren bisherige inhalt-
liche Ausformung). Denn wofür (und auch wodurch) die Genremalerei aufwerten,
wenn die entsprechende Bewertungsgrundlage nicht mehr gültig war? Diese Vor-
gehensweise der gezielten Entlehnung von Bestandteilen der Historienmalerei zur
Nobilitierung des Genre und - wie noch zu zeigen sein wird - zur Schaffung einer
dem Genre und der Historie zwischengelagerten Gattung kann als eine spezifisch
bürgerliche Form der Aneignung von Kunst beschrieben werden411.
Anders die Argumentation, wie sie Baillet de Saint Julien vortrug: Sie stellte die
Gültigkeit der der Hierarchie zugrundeliegenden Werte selbst in Frage. Konkret
heißt das: Wurde bei der oben geschilderten Strategie die traditionelle Einschätzung
von passions und caractères beibehalten und durch die Einbeziehung der Leiden-
schaftsdarstellungen in die Genremalerei die niedrigere Bewertung der Wiedergabe
des menschlichen Charakters sogar noch bestätigt, so erfuhr letztere nun eine Bedeu-
tungssteigerung. Folge davon war, daß damit auch das Genre an Prestige gewann. Es
wurde also das Genre in seiner unveränderten, bisher im Vergleich zur Historie als
minderwertig erachteten Form höher eingestuft. Die Gattungshierarchie wurde dem-
nach hier nicht modifiziert unter Beibehaltung wesentlicher, ihr zugrundeliegender
Momente, sondern sie wurde tendenziell aufgehoben.
Der Unterschied zwischen den beiden Argumentationen liegt - um es pointiert
auszudrücken - darin, daß erstere eine Reform von traditionellen, akademischen
Werten anstrebte, deren Gültigkeit die zweite nicht anerkennen wollte.
Les Cochin, Paris 1893, S. 110, der diese Haltung Cochins bereits in dessen »Voyage d'Italie«
(1758) feststellt.
411 Siehe Werner Busch, Nachahmung als bürgerliches Kunstprinzip. Ikonographische Zitate bei
Hogarth und in seiner Nachfolge, Hildesheim/New York 1977.