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Kirchner, Thomas
L' expression des passions: Ausdruck als Darstellungsproblem in der französischen Kunst und Kunsttheorie des 17. und 18. Jahrhunderts — Mainz: von Zabern, 1991

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https://doi.org/10.11588/diglit.72614#0338

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Das Primat der Wissenschaftlichkeit

Ausführungen aus diesem Grund hier angeführt zu werden verdienen. Er beschrieb
in seinen »Observations sur les maladies de l'ame«, die als Ergänzung zu dem oben
erwähnten Werk »La connoissance de l'homme moral par celle de l'homme physi-
que« gedacht waren, einzelne Affekte und auch Charakterzüge in ihren möglichen
krankhaften Erscheinungsweisen548. In seinem 1769 erschienenen »Discours sur la
physionomie« ging er sogar so weit zu behaupten:
»Point de maladies, si l'on en excepte les accidentelles, qui n'ayent pour cause quelque
passion de l'ame.«
(Kaum eine Krankheit, ausgenommen die zufälligen, die nicht eine Leidenschaft der
Seele als Ursache hätte.)
Und die Ähnlichkeit der Argumentation zu derjenigen des »Encyclopédie«-Artikels
wird deutlich, wenn es wenig später heißt:
»Tout medecin doit sçavoir que la tristesse, par exemple, est rêveuse, pesante, stupide;
qu'elle épaissit le sang, déseiche l'humide radical, et les os; qu'elle éteint les esprits,
détourne les sens de leurs fonctions, remplit les organes, et les vaisseaux d'humeurs noi-
res, et corrompues, qui leur sont ce que la boue est aux canaux des fontaines.«
(Jeder Mediziner muß wissen, daß zum Beispiel die Traurigkeit träumerisch, drückend,
stumpfsinnig ist; daß sie das Blut verdickt, die Lebenssäfte und die Knochen austrock-
net; daß sie die Lebensgeister auslöscht, die Sinne von ihren Funktionen ablenkt, die
Organe und die Gefäße mit schwarzen und fauligen Säften erfüllt, die für sie das sind,
was der Schlamm für die Wasserleitungen der Brunnen ist.)549
Jedoch sind Pernetys Ausführungen insgesamt nicht sonderlich qualitätvoll,
zuweilen sogar banal, und verharren meist im Bereich des Literarischen.
Handelt es sich bei Pathologie und Chirurgie um begrenzte Spezialgebiete, von
denen - zweckgebunden - Bemühungen zu einer Überwindung des Descartesschen
Leib-Seele-Dualismus ihren Ausgang nahmen, so war dieses Anliegen wesentlicher
Gegenstand einer sich neu formierenden, übergreifenden Disziplin, der »Science de
l'homme« oder Anthropologie550. Ihr erklärtes Ziel war eine ganzheitliche, wissen-
schaftliche Erfassung des Menschen. Dieses Vorhaben erforderte eine möglichst in
sich geschlossene Vorgehensweise, die eine Überprüfbarkeit der Ergebnisse erlaubte.
So verlagerte sich der Hauptakzent der Betrachtung des Menschen immer mehr auf
die Untersuchung seiner physischen Organisation. Der Metaphysik, die eine wesent-
liche Funktion in dem dualistischen System innehatte, wurde zunehmend eine
Erkenntnisfähigkeit in dieser Frage abgesprochen. Die Seele als empirisch und expe-

548 Antoine-Joseph Pernety, Observations sur les maladies de l'ame. Pour servir de suite au traité de la
connoissance de l'homme moral par celle de l'homme physique, Berlin 1777.

549 Antoine-Joseph Pernety, Discours sur la physionomie, et les avantages des connoissances physio-
nomiques, Berlin 1769, S. 87-89.

550 Zu dem Folgenden siehe Moravia, op. cit. (Anm. 538), S. 40-88.
 
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